Außerschulische Bildung 4/2020

Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie

Ein Essay

Berlin 2020
edition suhrkamp, 215 Seiten
 von Paul Ciupke

Eine Krise der Demokratie wird schon länger und in unterschiedlicher Ausdeutung diagnostiziert. Auf den ersten Blick scheint der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow nur eine weitere Facette hinzuzufügen. Sein im essayistischen Stil gehaltener und bisweilen auf den ersten Blick sonderbar argumentierender Beitrag enthält aber interessante Beobachtungen, Perspektivwechsel und Thesen, schlägt einige Volten und enthält auch Widersprüche, aber all dies macht die Lektüre umso lohnenswerter, auch weil so manche verbreitete und mittlerweile stereotyp gewordene Interpretation hinterfragt wird. Dazu gehört u. a. das Paradigma von der Postdemokratie, das die Aushöhlung bzw. Okkupation demokratischer Formen durch technokratische und wirtschaftliche Eliten konstatiert: Die Demokratie inszeniert sich zwar noch als solche, ist aber längst nur noch ein Schatten derselben.

Manows Gegenthese lautet, dass das aktuelle Problem unter anderem in einer zum Teil paradox verlaufenden Demokratisierung der Demokratie besteht, also in einer Steigerung des inhärenten Potenzials der Freisetzung von Mitsprache- und Anerkennungsansprüchen in der Gesellschaft und in den politischen Parteien.

Er demonstriert das zum einen am Beispiel der Parteiendemokratie. Parteien zerlegen sich und ihre erprobten Kommunikationswege, es erfolgt eine sukzessive Zerstörung von innen aber auch unterstützt von außen etwa durch die sozialen Medien. Manow erläutert dies anschaulich am Beispiel der Labour-Partei in Großbritannien, der Republikaner in den USA, der SPD und an der teilweisen Implosion des Parteiensystems in Frankreich. In den USA z. B. kann die republikanische Partei offenbar ihre Nominierungsverfahren kaum mehr steuern, der später erfolgreiche Präsidentschaftskandidat Trump machte eine Politik an der Partei vorbei in den verschiedenen Medienöffentlichkeiten.

Auch werden in manchen westeuropäischen Gesellschaften die Parteien durch die zunehmende Entkoppelung von (traditionellen) Milieus und aufgrund ihrer engen Verwobenheit mit dem Staat und den damit verbundenen Kompromissen immer weniger unterscheidbar. Gleichzeitig verschärfen sich aber die Konflikte innerhalb der Parteien. Die SPD etwa hat eine zunehmende Zahl an Mitgliedervoten praktiziert und versucht, so die parteiinterne Demokratie und Legitimationsbasis zu stärken, was Manow umgekehrt aber auch als eine Entfernung der Partei von der Gesellschaft und eine Schwächung der Parteienkonkurrenz interpretiert. Denn mit der Inflation der innerparteilichen Selbstbefragungen werden die bisherigen Zwischenstufen von Kontrolle und Rücküberlegungen zunehmend ausgeschaltet.

Diese Entwicklungen werden zusätzlich von der Dominanz der Netzmedien befeuert, denn diese üben inzwischen „die Herrschaft über die Themenagenda“ (S. 114) aus. Der Diskurs ist gewissermaßen ortlos geworden, findet immer weniger Rückbindung in die traditionellen kleinen Öffentlichkeiten, wo reale Kommunikation inzwischen auch über eine Twitterwall simuliert wird. Der innere Aufbau öffentlicher Diskurse ist aus der Balance geraten, Formen der Kontrolle und des Abcheckens, um Themen und Probleme kommunikativ und interaktiv einzuhegen, verflüchtigen sich immer mehr.

Die Demokratisierung der Demokratie bringt nicht nur mehr Partizipation hervor, sondern auch den „Pöbel“. Der Begriff Pöbel rekurriert auf das lateinische Wort Populus bzw. Plebs, das ist das gemeine Volk. In einem Rückblick erläutert Manow die historischen Ausschlüsse der Unterschichten, das Volk war zweigeteilt in den Teil, der Mitspracherechte reklamieren konnte, und einen Teil – eben den Pöbel –, der draußen gehalten werden sollte. Demokratie kennt immer auch die ständige Wiederkehr gerade derjenigen Kräfte, die sich nicht wiederfinden im System des Austarierens von Interessen und anerkennungsfähigen handlungsleitenden Normen: ein Kampf um die Grenzen des Repräsentierbaren bzw. Repräsentierten und Nichtrepräsentierbaren bzw. Nichtrepräsentierten. Manow erinnert an den Lynchmob der Französischen Revolution, an die alten Ängste vor den Massen, was dazu führte, dass man sehr wohl überlegte, wie man diese kontrollieren oder marginalisieren konnte. Der heutige Pöbel aber, so Manow, greift die Demokratie im Namen der Demokratie an. Ein Dilemma? Es ist aus seiner Sicht eine „Konsequenz der massiven Ausweitung politischer Partizipationschancen“ (S. 13).

Es wird aber nicht überzeugend klar, warum der Autor den äußerst ambivalenten, sehr auf politische Distinktion gerichteten Begriff des Pöbels aus der Geschichtskiste holt. Die Verteidigung der repräsentativen Demokratie, aber auch die Warnung vor den Massen, ist eigentlich eine Domäne der liberal-konservativen Seite gewesen, während die linken, linksliberalen und grünen Kräfte für weitere Demokratisierungsprozesse, mehr Partizipation und stetige Öffnung politischer Institutionen zur zivilen Gesellschaft eintraten. Manow kann zwar plausibel machen, dass immer öfter in den Sphären der Öffentlichkeit und der politischen Institutionen die mäßigenden Filter und überprüfenden Instanzen fehlen, er merkt auch an, dass die Verachtung der Politik zugunsten des Politischen (also der sozialen Bewegung und des Protestes) anwächst, aber soll man das jetzt auch als Plädoyer gegen eine deliberative Politik und den nachhaltigen Einbezug der Zivilgesellschaft in die politischen Diskurse lesen?

Sicher gilt es naive oder gar identitäre Demokratieverständnisse zu dekonstruieren und praktisch zu meiden. Manow sensibilisiert für die Gefahren unkontrollierter Öffnungen und verweist darauf, dass politische Kompetenzen auch eingeübt und reflektiert werden müssen. Das ist eine wichtige Aufgabe für die Akteure im Feld der politischen Bildung, in dem mitunter ein simples und unbekümmertes Partizipationsverständnis kultiviert wird.