Ein Paradigmenwechsel?!
Wochenschau Wissenschaft, 214 Seiten
Ich bin mir nicht sicher, ob die im Untertitel enthaltene Frage beantwortbar ist. Unbestritten ist, dass mit Ein- und Zugewanderten sich die Gegenstände politischer Bildung erweitert haben und eine neue Zielgruppe entstanden ist. Maria do Mar Castro Varela hat die Entdeckung dieser Zielgruppe mit der „Re-Education“ der Nachkriegszeit verglichen und moniert, dass Zugewanderte nicht als Subjekte, sondern als Objekte politischer Bildung betrachtet würden. Sie sind die „‚unzivilisierten‘ Anderen“, die Deutschen sonnen sich in der „Position der ‚Zivilisierenden‘“ (In: Außerschulische Bildung 2/2021, S. 58).
Das von Sabine Achour und Thomas Gill herausgegebene Buch enthält elf grundlegende Texte und 14 Projektbeispiele. Mehrere Autor*innen beklagen, dass politische Bildung auf Projektförderung angewiesen ist. Dies ist ein grundsätzliches Problem. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung das angekündigte Demokratiefördergesetz bis heute nicht vorgelegt hat. Verlässliche Planung sieht anders aus.
Die Grundlagentexte des Buches bieten eine vorzügliche Palette der Anforderungen an eine partizipativ und nachhaltig angelegte politische Bildung. Sabine Achour: „In Zukunft kann nicht ad hoc immer wieder auf verschiedene Gruppen reagiert werden. Um unabhängig von Fluchtmigration und Herkunft Menschen individuell und inklusiv begleiten zu können, müssen existierende Strukturen im Kontext Arbeit und Bildung entsprechend der initiierten Prozesse der Multiprofessionalisierung und der Investitionen in Betreuungskapazitäten weiterentwickelt werden. Allerdings haben all die gestarteten Projekte eine beschränkte Laufzeit. Für ein nachhaltiges Angebot bedarf es einer dauerhaften Finanzierung und Regelstrukturen (…).“ (S. 25)
Rebecca Arbter und Ina Bielenberg unterstreichen diese Analyse: „Es kann rückblickend nur eingeschränkt von einer systematischen (…) Entwicklung von Angeboten der außerschulischen politischen Bildung für Geflüchtete gesprochen werden.“ (S. 79) Wenn es nicht gelingt, „mit“ und nicht nur „für“ Geflüchtete zu arbeiten, werden die gewünschten Ergebnisse nicht erreicht. Die beiden Autorinnen fordern, „Demokratiebildung als Selbstaneignung zu ermöglichen und nicht durch eine verengte Demokratieerziehung zu ersetzen.“ (S. 86) Viele Ansätze gehen jedoch davon aus, als wüssten nur wir in Deutschland als Angehörige der Mehrheits- bzw. Aufnahmegesellschaft, wie Demokratie funktioniert.
Geflüchtete und Zugewanderte werden in der politischen Debatte gerne als homogene und gefährliche Gruppe gelesen. Politische Bildung wird als Prävention begründet. Thomas Gill: „Prävention ist (…) nicht per se schon Demokratieförderung. Mit ihr verbunden ist die einseitige problematische Adressierung der Zielgruppen als potentielle Gefährder. (…) Die Welt wird durch die ‚Problembrille‘ betrachtet. Prävention ist nicht auf die Zukunft, sondern auf Vergangenheit gerichtet, da Prävention immer nur gegen etwas gerichtet sein kann, was im Prinzip bekannt ist.“ (S. 45)
Claudia Lohrenscheit bezweifelt, dass sich Menschen, die keinen Kontakt zur Aufnahmegesellschaft halten dürfen, integrieren können und fordert einen „Perspektivwechsel für Solidarität und Inklusion“: „Diese Perspektive ist auch deswegen wichtig, weil geflüchtete Menschen keine homogene oder geschlossene Gruppe sind, sondern sie sind zuallererst Kinder und Jugendliche oder Frauen und Männer oder Mütter und Väter, Freund*innen, Verwandte etc. – wie jeder andere Mensch auch.“ (S. 63)
Nicholas Henkel beklagt die Fixierung der Behörden auf Sprachkurse. Die Komplexität der Wirklichkeit muss jedoch auch „trotz Sprach- und Verständnisproblemen“ einsichtig werden. Wir können nicht warten, bis alle Zugewanderten ein Sprachlevel von B 2 oder B 1 erreicht haben. Das Kernziel heißt „Self-Empowerment“. Thomas Gill sprach mit Teresita Cannella und Mohammed Jouni darüber, dass Geflüchtete und Zuwandernde lernen sollten, dass sie – ganz im Sinne des berühmten Diktums von Hannah Arendt „Rechte haben“. Und das geht nur, wenn wir – so Teresita Cannella – die „Menschen, die ‚am Rand sind‘, rein(zu)holen in die politische Bildung, ihnen einen Raum geben.“ (S. 126)
Bernd Overwien formuliert Gegenstand und Lernziele über den Orientierungsrahmen von KMK und BMZ für den Lernbereich globale Entwicklung, der sich – demnächst in seiner dritten Fassung – an den 17 Sustainable Development Goals orientiert. Die 14 Projektbeispiele enthalten Angebote für Geflüchtete, Begegnungen, Angebote für die Aufnahmegesellschaft sowie Angebote in der Schule. Sie ließen sich mit den in den Grundlagentexten benannten Kriterien bewerten. Handelt es sich um partizipativ angelegte Projekte? Gibt es dauerhafte Strukturen? Wie werden Interaktionen zwischen Mehrheiten und Minderheiten, Zugewanderten und Aufnahmegesellschaft gefördert und thematisiert?