Außerschulische Bildung 4/2022

Stefan Creuzberger: Das deutsch-russische Jahrhundert

Geschichte einer besonderen Beziehung

Stefan Creuzberger, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Rostock, ist als ehemaliger Redakteur der Zeitschrift „Osteuropa“ und als Mitglied der Gemeinsamen Deutsch-Russischen Geschichtskommission ein ausgewiesener Fachmann für einen orientierenden Blick nach Osten, der auch die historische Dimension einbezieht. In seinem Ende 2021 abgeschlossenen Buch, das zeitgleich mit Putins Angriff auf die Ukraine erschien, ist der Krieg natürlich noch nicht Thema. Es geht nur im Schlussteil auf die letzte Phase des west-östlichen Eskalationsprozesses bis zur Gipfel-Diplomatie im Sommer 2021 ein, als auf Druck der USA „die Länder des Westens im Rahmen von Europäischer Union und NATO mit einer Stimme gegenüber Russland aufzutreten“ (S. 558) begannen.

Aber der eingängig geschriebene Band bietet auf jeden Fall umfangreiches Hintergrundmaterial zum neuen Ost-West-Konflikt. Der Autor hat ihn als „Beitrag zur Versachlichung“ konzipiert, der gegen den landläufigen Vorwurf vom „Putinverstehen“ dafür votiert, sich „auf die Frage des Verstehens einzulassen, ohne dies zwangsläufig mit Billigung gleichzusetzen“ (S. 17). Seit dem Maidan-Putsch in der Ukraine 2014, der nachfolgenden Annexion der Krim und der Unterstützung des ostukrainischen Aufstands durch Russland war ja in der politischen wie fachlichen Debatte eine ungute Polarisierung aufgetreten. Dabei hält Creuzberger es für ein besonderes Manko, dass „in dieser Kontroverse die maßgeblichen historischen Bezugspunkte abhandengekommen sind“ (S. 17).

Diese Defizite will die Studie aufarbeiten. Dabei erinnert sie nachdrücklich an einen der wichtigen „kulturellen Brückenbauer“, den – 1906 in Moskau geborenen – umtriebigen Publizisten Klaus Mehnert, der in der Weimarer Republik die Schriftleitung der 1925 gegründeten Fachzeitschrift „Osteuropa“ übernahm und nach 1949 zum Kreis der Fachleute gehörte, die die „Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde“ wiederbegründeten. Diese starteten 1951 die unter den Nazis eingestellte Zeitschrift „Osteuropa“ neu. Mehnert war für sie bis 1975 redaktionell verantwortlich und neben seiner politikberatenden Tätigkeit auch als Hochschullehrer tätig. Als „medienwirksamer Mediator“ (S. 16) besaß er großen Einfluss, was Creuzberger gerade im Blick auf die Bewusstseinsbildung in Sachen Ost-West-Verhältnis betont. An solchen Stellen oder bei den Ausführungen zum Wandel der Erinnerungskulturen (vgl. S. 339 ff.) werden auch Fragen der politischen Bildung angesprochen.

Mehnert, der zudem als Brückenbauer von Adenauers Westintegration zu Brandts Ostpolitik wirkte, habe mit seinen Veröffentlichungen Ende der 1950er Jahre als „einer der Ersten … ein breites deutsches Publikum auf die ungeheuren Leiden der sowjetischen Völker im von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieg“ (S. 473) aufmerksam gemacht. Denn in der Nachkriegs-BRD bestand ja das „vorherrschende Täter-Opfer-Narrativ“ aus einer Umkehrung: Die Deutschen wurden zu Opfern russischer Gewalt. Das Feindbild vom Bolschewismus blieb in Kraft, der jetzt nicht mehr „jüdisch“, sondern „gottlos“ hieß. Was erinnerungspolitisch gegenüber Israel selbstverständlich war – die Rücksichtnahme auf ein staatliches Sicherheitsbedürfnis –, galt eben, wie Creuzberger vermerkt, nicht im Fall der UdSSR. Hier war Mehnert einer der wenigen, der den Deutschen ins Gedächtnis rief, dass für die sowjetische Bevölkerung deutsches Soldatentum ein Alpdruck war; und der gegen eine Ignoranz antrat, die im Grunde das Ende des Ost-West-Gegensatzes überdauerte.