Gesellschaftspolitische Herausforderungen, Zivilgesellschaft und das vermeintliche Neutralitätsverbot
„Neutralität und Normativität“ ist der Schwerpunkt dieses Sammelbandes, der Beiträge der digitalen Herbsttagung der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung im November 2020 umfasst. Der erste Teil widmet sich dem vermeintlichen Widerspruch zwischen Beutelsbacher Konsens („Überwältigungsverbot“) und aktivierender politischer Bildung. Im zweiten Teil „Politische Bildung in Krisenzeiten“ folgen Praxisbeispiele aus unterschiedlichen Debattenfeldern.
Der Titel verspricht eine „Standortbestimmung“. Dies erfüllt sich nur bedingt, was zum einen an dem Format eines Sammelbandes liegt, in dem die Beiträge für sich stehen und keine übergeordnete Redaktion den Schritt wagt, die aktuellen wichtigsten Herausforderungen zu priorisieren. So gibt es interessante Einzelbeiträge, aber kein klares Bild, wo politische Bildung derzeit steht. Zum anderen sind thematischer Fokus und Beiträge gute zwei Jahre alt – auch in der politischen Bildung rast die Zeit. Die Beiträge zu „Neutralität und Normativität“ sind sehr getrieben von den Angriffen der AfD, dem Druck zu erklären, dass eine „neutrale“ politische Bildung nicht sinnvoll und auch nicht machbar ist, sowie der Verteidigung der politischen Bildung gegen ihren Missbrauch als sicherheitspolitisches Präventionsprogramm. Das AfD-Meldeportal ist mittlerweile in der Versenkung verschwunden (Sibylle Reinhardt). Der Versuch, Lehrer*innen als „folk devils“ gesellschaftlich zu diskreditieren, ist gescheitert, wie Matthias Heil zugibt. Man könnte stolz postulieren, Rechtsstaat und Demokratie haben sich erfolgreich gewehrt. Doch herrscht ein eher defensiver Ton der Rechtfertigung. Dies ist überflüssig: Leser*innen, Fachkräfte der politischen Bildung, muss man die Tatsache, dass „Politische Bildung politisieren, statt neutralisieren“ (Einleitung, S. 22) will, nicht in dieser Ausführlichkeit erklären. Man könnte selbstbewusst in die brennenden Fragen einsteigen. Tut das der Band? Ein bisschen.
Die Praxisbeispiele sind wohltuend selbstkritischer als der erste Teil. Dort wagt allein Philipp Mittnik auszusprechen, was wir eigentlich wissen: „Die politische Sozialisation findet nicht nur in der Schule statt und die Wirkungsmacht der Peers dürfte wesentlich größer zu sein.“ (S. 57) Dennoch fokussiert sich die Mehrzahl der Beiträge auf junge Menschen und Schule, was dem weitverbreiteten Missverständnis entspricht, man müsse nur die Jungen gut auf die Schiene setzen, dann klappt das schon mit der Demokratie. Die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen oder das enttarnte Netzwerk der Reichsbürger*innen zeigen, von wem die wirkliche Gefahr ausgeht. Wie erreicht politische Bildung diese Menschen, bzw. die, die mit den Ideen sympathisieren? Dieses Thema fehlt. Umso wichtiger ist der Artikel zur politischen Bildung im Verwaltungskontext, der einzige Beitrag, der sich ausschließlich an eine erwachsene Zielgruppe richtet, die tatsächlich Wirkung entfalten kann. Im Gegensatz zum Eindruck, den das Buch erweckt, mischen sich junge Menschen dieser Tage besonders aktiv ein. Woher kommt die politische Motivation der Klima-Aktivist*innen? Kann politische Bildung davon lernen, wie man (junge) Menschen erreicht? Darin steckt eine weitere Frage des Ansatzes: Weg vom „Defizitären“ hin zum „Potenzial“ der Menschen.
Die Artikel zur Einbindung mathematischer Modelle (Bastian Vajen, Lara Gildehaus, Michael Liebendörfer, Christoph Wolf) oder auch zur ökonomischen politischen Bildung (Sophia Bickhardt) weisen indirekt auf häufig fehlende Interdisziplinarität hin. Auch das Beispiel von Joannes Domnick, Lennart Berwanger und Fabian Müller zeigt, wie man durch vernetztes Handeln von Jugendtreffs, Naturschutzorganisationen und politischen Bildungsangeboten dem Thema „sozio-ökologische Transformation“ gerecht wird. Politische Bildung ist häufig zu kognitiv ausgerichtet, sagt Marc Grimm und zeigt auf, wie man Antisemitismus-Trainings mit den Gefühlen der Teilnehmer*innen beginnt und sie damit gleichzeitig in ihrer Lebenswirklichkeit erreicht: Wie richten wir politische Bildung an den Erfahrungen und Wahrnehmungen der Menschen aus? Besonders anspruchs- und gehaltvoll ist der Artikel von Werner Friedrichs. Er fragt, warum die politische Bildung immer noch von der „autonomen Handlungsmacht des Subjekts“ (S. 145) ausgeht, wo doch die Verhaltensökonomie nachweist, dass Handeln das Ergebnis von materieller Situation und Routinen ist. Bildung für nachhaltige Entwicklung kritisiert er für ihren Ansatz, die Welt läge in einem natürlichen Gleichgewicht, welches es wieder herzustellen gilt. Im Gegensatz dazu ginge die Forschung heute von „Hybriden Ökologien … mit … Unwuchten“ aus (S. 145). Auch die Prämisse, in ökologischen Fragen gäbe es ein „Richtig und Falsch“ fordert er mit der „new cognitive science“ heraus, nach der die Wahrnehmung von Menschen keine 1:1-Abbildung der Wirklichkeit ist.