Außerschulische Bildung 3/2022

Tobias Müller: Die Wurzeln des Populismus

Eine Ideengeschichte in den USA des 19. Jahrhunderts

Bielefeld 2020
transcript Verlag, 341 Seiten
 von Detmar Doering

„Populismus“ ist heutzutage ein politischer Kampfbegriff, der, ähnlich dem Vorwurf des „Neoliberalismus“, recht vage definiert ist und als Totschlagargument gegen eine breitere Auswahl politischer Gegner eingesetzt werden kann. Historische Aufklärung kann da zur Verbesserung der Debattenkultur beitragen. „Neoliberalismus“ wird heute gegen jede Form von Liberalisierung gerichtet, während die historischen „Neoliberalen“ die Soziale Marktwirtschaft erfanden. Populisten sind heute eigentlich nur anti-elitäre Rechte, aber in Wirklichkeit waren sie ursprünglich einmal eine klar definierte progressive Bewegung in den USA des späten 19. Jahrhunderts.

Und genau hierhin entführt uns das überaus detailreiche und informative Buch „Die Wurzeln des Populismus“ des Politikwissenschaftlers Tobias Müller. Zum Hintergrund: Im Jahre 1891 formierte sich die meist als Populist Party bekannte People’s Party, die bei den Präsdientenwahlen im Jahr darauf über eine Millionen Stimmen und vier Staaten für sich gewinnen konnte und auf dem Wege zu sein schien, die dritte Partei im Lande zu werden.

Die Wählerbasis lag bei tendenziell verarmenden Farmern im mittleren Westen, die die Verlierer des amerikanischen Industrialisierungsprozesses nach dem Bürgerkrieg (von Mark Twain als „Gilded Age“ bezeichnet) waren. Man sah in der Erstarrung eines hierarchisierten Zweiparteiensystems, im beschränkten Wahlrecht, im Monopolismus und der staatlichen Privilegierung von großen Unternehmen (z. B. Eisenbahnen), im Landbesitz, im Goldstandard u. v. a. die tieferen Ursachen dafür, dass trotz Wachstums, die Armen ärmer, die Reichen reicher wurden (S. 223).

Dies machte ein in ihren Augen umfassendes Reformprogramm nötig, das verkrustete (Elite-)Strukturen aufbrach. Neben dem Anliegen, den heutigen amerikanischen „Populismus“ à la Trump vom historischen Populismus zu unterscheiden, der ja im Prinzip gegen fast alles kämpfte, wofür Trump steht, geht es Müller vor allem aber um die historische und politisch-philosophische Einordnung des Populismus in die amerikanische politische Tradition. Diese Analyse geht faktenreich in die Tiefe und setzt bei den Leser*innen sicher einiges Vorwissen voraus. Eine Anfängerlektüre ist der hochwissenschaftliche Text gewiss nicht, aber eine lohnende Lektüre.

Müller setzt sich dabei mit der gängigen These auseinander, die Populists seien eine Traditionsfortführung der beiden führenden historischen Neuerungsbewegungen in den USA, den Jeffersonians (die nach der Wahl von Thomas Jefferson 1800 den Kurs bestimmten) und den Jacksonians (verbunden mit der Präsidentschaft Andrew Jacksons nach 1829) gewesen. Erstere standen für die Verteidigung republikanischer Ideale gegenüber den als krypto-monarchisch empfundenen Tendenzen der Vorgängerregierungen (S. 35 ff.), zweitere, so Müller, für eine höhere Gewichtung der Volkssouveränität (S. 139) und wirtschaftliches Laissez Faire (S. 167 ff.).

Obwohl er anerkennt, dass Jeffersonians und Jacksonians mit den Populists der Jahrhundertwende eine gegen verfestigte politische und wirtschaftliche Elitenstrukturen gerichtete Stoßrichtung teilten, sieht der Autor bei den Populists ein gegenüber den vermeintlichen „Vorgängern“ völlig verändertes Staatsverständnis am Werke.

Sowohl Jeffersons Vision einer non-zentralistischen republikanischen Agrargesellschaft als auch Jacksons gegen Staatsmonopole gerichtete Minarchismus wiesen – trotz ihrer Unterschiede – auf einen limitierten Staat hin, der primär klassisch liberale Rechte verteidigt.

Mit den Populists erst setzt ein deutlicher Paradigmenwechsel im Staatsverständnis ein. Sie stellten Forderungen auf, die viele Elemente späteren sozialstaatlichen Denkens aufwiesen: Kampf gegen staatliche Privilegien aber auch gegen das, was sie (heute ökonomisch nicht ganz unumstritten) als „natürliche Monopole“ bezeichneten, wie Eisenbahn und Post (S. 277), der Kampf gegen den Goldstandard zugunsten des Bi-Metallismus, um die Geldmenge zu erhöhen (eine Debatte, die sogar damals nach Deutschland überschwappte, wo man die Idee aber als inflationistisch ablehnte), die progressive Einkommenssteuer und vieles mehr.

Auch setzte man sich für mehr direkte Demokratie ein. Hier könnte man Anknüpfungen zum Denken der Jacksonians und zum modernen Populismus vermuten, aber Müller weist darauf hin, dass das Mehr an Demokratie eher „einer möglichst integrativen Entscheidungsfindung“ (S. 237) dienen sollte, was auch den übrigen reformerischen Zielen entsprach.

Obwohl die Partei 1908 de facto zu existieren aufhörte, hat sie spätere Reformprozesse (durchgeführt von den „Altparteien“) stark und wirkungsvoll inspiriert.

Müllers sorgfältig elaborierter These des Paradigmenwechsels, der durch die Populists hervorgerufen wurde, ist sicher zuzustimmen. Ob, wie allerdings in Tiefe nur im Nachwort argumentiert wird, der historische Populismus (der Linken) als Vorbild zur Überwindung des leidigen heutigen Populismus (der Rechten) dienen kann, muss man nicht unbedingt teilen und könnte zu einem Fortschreiben erstarrter und finanziell nicht nachhaltiger wohlfahrtsstaatlicher Strukturen führen. Andererseits liefert die historische populistische Bewegung auf einer höheren Abstraktionsebene ein Beispiel dafür, wie langfristige Strukturwandel in der Politik effektiv thematisiert und Refomideale durchgesetzt werden können – auch wenn Systemerstarrungen dieses Unterfangen zunächst aussichtslos erscheinen lassen.

Dr. Detmar Doering leitet seit 2017 das Büro Prag (Mitteleuropa/Baltische Staaten) der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Zuvor war er Leiter des Bereichs Grundsatz und Forschung der Stiftung.