Außerschulische Bildung 1/2022

Ursula Münch/Andreas Kalina (Hrsg.): Demokratie im 21. Jahrhundert

Theorien, Befunde, Perspektiven

Baden-Baden 2020
Nomos Verlagsgesellschaft, 446 Seiten
 von Norbert Tillmann

Der vorliegende Sammelband bietet eine profunde Diskussion demokratischer Prozesse. Ausgehend von der Frage nach einer Krise der Demokratie diskutieren die Autor*innen die Parteien- und Mediendemokratie sowie die Chancen und Risiken plebiszitärer Elemente. Dabei bilden die Auswirkungen der Digitalisierung und die Frage nach der demokratischen Legitimation Europas zwei Schwerpunkte. Der Band schließt mit einem Ausblick auf die sogenannte Postdemokratie und einem praktischen Bezug zur politischen Bildung.

Im Einzelnen: Der Politikwissenschaftler Hans Vorländer sieht die gegenwärtige Demokratie in der Krise. Dies bezieht er sowohl auf die Demokratie als Herrschaftsform als auch auf ein wertegebundenes Konzept. Die Bürger*innen hätten ein gespaltenes Verhältnis zu ihren Vertreter*innen und die Werte einer pluralistischen Gesellschaft seien keine Selbstverständlichkeit mehr. Insbesondere der Populismus sei eine Schwachstelle der Demokratie. Einen Ausweg aus der demokratischen Krise sieht er nicht in Plebisziten, da sie zu Autoritarismus führten, weil sich die Stärkeren durchsetzen.

Gegenüber Vorländer fordert Rainer-Olaf Schultze mehr politische Beteiligungen der Bürger*innen, denn durch den gesellschaftlichen Wandel müssten die Formen der Demokratie vielfältiger werden. Die demokratische Entwicklung sollte sowohl durch Wahlen und Abstimmungen, als auch durch einen gestärkten zivilgesellschaftlichen Einfluss durch direkt-demokratische Aktionen in Institutionen wie Parteien, Verbänden, Bürgerinitiativen vorangetrieben werden. Unter den Voraussetzungen von Gewaltenteilung, Gewaltfreiheit und Pluralismus sieht Schultze keine Gefahr für die Demokratie durch ein Übermaß der Beteiligung der Bürger*innen.

Vonseiten der Herausgeber*innen erörtert Ursula Münch den Einfluss der Digitalisierung auf Politik und Gesellschaft. Der Staat sei mittlerweile überfordert, da er beim Tempo der Digitalisierung nicht mehr mithalten könne. Dabei macht sie deutlich, dass die Digitalisierung als Gegenstand der Politikwissenschaft sich auf Formen, Inhalte und Prozesse der Demokratie bezieht. Münch sieht einen wachsenden Einfluss der Informations- und Kommunikationstechnik auf die Meinungs- und Willensbildung. Digitalisierung verändere den öffentlichen Diskurs im Netz und führe zu einer anderen Aufmerksamkeit. Möglichweise entstehe durch die Digitalisierung eine fünfte Gewalt in der Gesellschaft, so ihre Prognose oder gar Befürchtung. Politische Bildung benötige digitale Bildung, d. h. auch das Verstehen der Algorithmen.

Eine weitere Problematik der Demokratie sieht der zweite Herausgeber, Andreas Kalina, im Demokratiedefizit der EU. Dies bestehe in einem Legitimationsdefizit, das sich einerseits inhaltlich in einem mangelnden europäischen Wir-Gefühl und andererseits formal an der ineffizienten Entscheidungskraft des europäischen Institutionengefüges zeige. Volksabstimmungen in Form von Referenden auf europäischer Ebene könnten dieses Legitimationsdefizit nur tendenziell beheben. Direktdemokratische Referenden könnten zwar mehr Beteiligung der Bürger*innen bieten, aber sie dienten eher einer Interessengruppe, so Kalina.

Zwei gegensätzliche Positionen finden sich in den Beiträgen von Ulrich von Alemann und Peter Seyferth. Ersterer widerspricht der Klage über die sogenannte Postdemokratie. Seit den 50er Jahren habe die deutsche Demokratie an Qualität gewonnen. Daher sieht er im Begriff der Postdemokratie eine Worthülse, ein Narrativ ohne Gehalt. Demgegenüber plädiert Seyferth für ein Mehr an Demokratie. Diesen Gewinn an Demokratie sieht er in einem utopischen Gesellschaftsentwurf im Sinne eines herrschaftsfreien Anarchismus. Er fordert die Politikwissenschaft auf, sich mit dem Anarchismus auseinanderzusetzen, der demokratischer sei als die Demokratie.

Der Band schließt mit einem Plädoyer der Herausgeber*innen für die politische Bildung. Sie müsse einerseits das Verstehen demokratischer Prozesse leisten und andererseits die normative Wertegebundenheit vertreten und damit zur Demokratie animieren.

Die Herausgeber*innen stellen hohe Anforderungen an die politische Bildung und an den Einzelnen. Hier stellt sich die Frage, wen diese politische Bildung erreichen kann und wer dies leisten kann. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass derzeit politisch-pädagogische Begriffe wie der der Resilienz von Hartmut Rosa Konjunktur haben. Dieser muss sich wiederum der fundamentalen Kritik der Resilienz im Krisenkapitalismus von Stefanie Graefe stellen. Eine Kritik der Herrschaftsverhältnisse in der Demokratie kommt in dieser Studie aus der Akademie für politische Bildung in Tutzing zu kurz. Dennoch bietet der Band eine differenzierte und vertiefte Diskussion demokratischer Prozesse.

Norbert Tillmann ist freiberuflicher Journalist. Er produziert Filmbeiträge und ein Podcast, ist als Referent im Rahmen der außerschulischen, politischen Bildungsarbeit tätig und berät Einrichtungen beim Bildungs- und Qualitätsmanagement.