Weltordnungskrieg und „Zeitenwende“
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat hierzulande nicht nur eine – offiziell ausgerufene – „Zeitenwende“ stattgefunden, eine Hinwendung der Politik zu entschiedener Kriegsbereitschaft und -tüchtigkeit, „sondern auch eine diskursive“ Wende – also eine Art Gesinnungswechsel hin zu einem „binären Reduktionismus“, der zu einem „Denken im Modus von Gut und Böse“ verpflichtet und „den Raum des Sag- und Sichtbaren“ mit starken Restriktionen belegt (S. 7). So die gemeinsame Position der neun Autor*innen, die die beiden Herausgeber vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) in ihrem Sammelband (Redaktionsschluss: Herbst 2023) zu Wort kommen lassen.
Das Buch, das auf die Kategorien „Weltordnungskrieg“ und „Hegemoniekampf“ fokussiert sowie eine Reihe verwandter Themenkomplexe aufgreift (Rolle der Medien, VR China, Kriegskritik in Russland …), will sich dem Schwarzweiß-Muster, der Verpflichtung zur Parteinahme und dem „Vorherrschen der Kriegslogik“ (S. 5) entziehen und stattdessen nach Erklärungen für die neue prekäre Weltlage suchen. In diesem Sinne widmet es sich einer Basisaufgabe der politischen Bildung: Es nimmt die Lage samt ihren gängigen Deutungen nicht einfach als gegeben hin, stellt sich vielmehr den analytischen Herausforderungen und führt ins Feld der Kontroversen, die ja gerade den Kern des Politischen ausmachen.
Die prekäre Lage der deutschen Öffentlichkeit ist dabei in den meisten Beiträgen Thema. Jürgen Link spricht von einem „Diskurskrieg“ (S. 20), der unterm „Supermachtmonopol der USA“ (S. 16) stattfinde, Clemens Knobloch von einem „Prozess der diskursiven Selbstgleichschaltung“ (S. 115), der speziell von proamerikanischen Pressure Groups forciert werde. Der Hauptbeitrag von Kastrup macht den hegemonialen US-Anspruch samt seiner – bisher schon in diversen völkerrechtswidrigen Militäraktionen offenbarten – Kriegsträchtigkeit zum Thema, bringt aber auch einen Überblick über unterschiedliche Einschätzungen zur Konfliktgeschichte. Der von Putin verharmlosend als „Spezial-Operation“ bezeichnete Angriff ziele ebenfalls auf Weltordnungsfragen: „Russland will seine Ambitionen als hegemoniale Großmacht im Gebiet der alten Sowjetunion erhalten, den USA geht es um ihre hegemoniale Weltherrschaft (…). Eine direkte Intervention der NATO scheint derzeit ausgeschlossen. Die Eskalationsdominanz beanspruchen aber beide Seiten für sich.“ (S. 58)
Kastrup ordnet das Geschehen also in die Logik des modernen, postkolonialen Imperialismus ein, in dem Staaten um die Schaffung von Abhängigkeiten, Einflusssphären und damit um Über- und Unterordnungsverhältnisse ringen. Bereits die Osterweiterung der NATO sei in diesem Sinne ein „imperialer Akt gewesen“ (S. 30). Und vor allem sei mit dem von Obama eingeleiteten „pivot to asia“ (S. 83) und dessen Fortsetzung unter Trump wie Biden die nächste Weltkriegsfront eröffnet – ein Thema, das auch weitere Beiträge des Bandes behandeln. Uwe Hoering hält etwa fest, dass China mit dem Aufstieg zur Welt(wirtschafts)macht „zentrale Instrumente des westlichen Herrschaftsmodells über den Globalen Süden“ ins Wanken bringe, somit den ärmeren Ländern „eine neue Perspektive eröffnet, die Abhängigkeit von westlichen Industrieländern zu lockern“ (S. 97). Der idealisierenden „multipolaren“ Rhetorik der Volksrepublik (oder auch Russlands) schließen sich die Beiträge aber nicht an: Sie heben vielmehr die Sachzwänge einer imperialen Ordnung hervor, in der Machthaber und Machtanwärter ihre Rivalitäten austragen – und der Stellvertreter Ukraine seine eigene nationalistische Formierung betreibt.