Die AfD zwischen Bewegung und Parlament
J.H.W. Dietz Nachf., 295 Seiten
„Die AfD ist ein Rätsel, dessen Auflösung sich dieser Band zum Ziel gesetzt hat.“ (S. 9) So leiten die beiden Hochschullehrer Schroeder und Weßels vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) ihren Sammelband ein, in dem ein gutes Dutzend Autor*innen, vorwiegend aus der Parteienforschung, der Frage nachgeht, in welcher Weise und dank welcher Triebkräfte die AfD das politische System der Bundesrepublik verändert. Dabei ist die im Titel angedeutete These leitend, dass der Erfolg der rechtspopulistischen Partei im Zusammenhang gesellschaftlicher Spaltungstendenzen zu sehen sei. Die AfD sei sowohl deren Ausdruck als auch Aktivistin eines Spaltungs- und Polarisierungsprozesses im politischen System, der den demokratischen „Grundkonsens, der die Bundesrepublik über Jahrzehnte gekennzeichnet hat, gefährdet“ (S. 10).
Der Rätselcharakter bestehe vor allem darin, dass sich die AfD nicht als eindeutig rechtsradikale Partei einordnen lasse, die sich prinzipiell gegen das demokratische Procedere stellt, dass sie zugleich aber als ein Gegenpol zum bestehenden demokratischen (Parteien-)Pluralismus agiere. Dieser Widersprüchlichkeit will die Veröffentlichung mit einem „empirischen Kontrapunkt“ (S. 14) auf den Grund gehen und dabei vorschnellen Einstufungen der Partei als „rechtsextrem“ oder „liberal-konservativ“ entgegentreten. Damit stellt sie auch die Behauptung von der Chancenlosigkeit des Populismus, die angesichts der Stabilität des hiesigen Parteiensystems gegeben sein soll (so der Politologe Frank Decker 2004 vor der Gründung der AfD), in Frage. Der Fokus der Analysen ist auf die Parteientwicklung, auf die Wählerbasis, auf Mitgliedschaft und Mandatsträger gerichtet; bei der Programmatik interessieren vor allem die internen und externen Abgrenzungs- und Profilierungsprozesse, darunter natürlich auch die Nutzung der Social Media, denn, so die Herausgeber etwas apodiktisch, die AfD sei die „erste wirkliche Internetpartei“ (S. 260).
Natürlich ist der Sammelband auf dem Stand des Jahres 2019, sodass die nachfolgenden Entwicklungen im Verhältnis zu anderen Parteien, etwa beim Thema Koalitionsfähigkeit auf Länderebene (vgl. S. 39), oder bei den internen Differenzen, Beispiel Rentenpolitik (vgl. S. 26), nicht aufgegriffen werden konnten. Und der Wandel der Partei wie der ganzen deutschen Parteienlandschaft seit der Corona-Krise hat jetzt natürlich wieder Neuerungen gebracht, sodass die Analysen des Berliner Forschungsteams eine – mittlerweile – historische Etappe des Populismus-Problems abbilden. Das muss kein Mangel, kann für weitere Untersuchungen durchaus hilfreich sein. Was bei dem Buch jedoch irritiert, ist die Leerstelle Bildungspolitik.
Ganz am Rande, eigentlich nur im Blick auf die Parteienfinanzierung, wird etwa die Erasmus-Stiftung der AfD erwähnt (S. 30, 38), die ja 2018 als potenziell einflussreicher Akteur in der deutschen Bildungslandschaft angetreten ist. Davon, dass im AfD-Grundsatzprogramm der politischen Bildung neben der „Lügenpresse“ ein erheblicher Stellenwert im Blick auf die Aufrechterhaltung des angefeindeten „Parteienkartells“ eingeräumt wird (siehe dazu etwa die Beiträge in der „Außerschulischen Bildung“ 2/17 oder 3/19), ist gar nicht die Rede. Bei den programmatischen Schwerpunkten werden zwar an zweiter bzw. dritter Stelle „die Wahrung traditioneller Werte“ und die „Wiederherstellung kultureller Homogenität“ genannt (S. 128 f.). Aber dass damit eine Bildungsaufgabe anvisiert ist, dass sich die AfD richtiggehend in der Rolle eines Volks(um)erziehers gefällt, dass die Partei das mit einer polemischen Wendung gegen den Schulunterricht nicht nur, aber besonders in den Abteilungen Politik, Gesellschaft und Geschichte zu einem zentralen Punkt in landespolitischen Initiativen gemacht hat (siehe die „Meldeportale“ zur Denunziation „linker Ideologie“ im Schulwesen), und zwar sowohl im Wahlkampf als auch mit zahlreichen „disruptiven“ Interventionen in die bestehende Bildungspolitik und -förderung, all das kommt nicht vor. Dass dies in der Tabelle zu den Parlamentsaktivitäten (vgl. S. 247) nicht erscheint, liegt wohl daran, dass es hier um die Bundes- und nicht um die Landesebene geht. Doch wäre auch bei den Bundesaktivitäten zu beachten, dass nicht nur bei der Rubrik „Bildung und Erziehung“, sondern auch bei „Kultur“ oder „Wissenschaft“ die Vermittlung neuer Leitbilder, also ein volkspädagogisches Umsteuern, gemeint ist.
Zustimmen kann man den abschließenden Thesen der Herausgeber, dass die AfD die Unzufriedenheit vieler Menschen mit den Resultaten der Globalisierung aufgreift, sich als eine Mischung fundamentaloppositioneller Bewegung mit parlamentarischer Korrektheit präsentiert und so ein Angebot macht, das „Repräsentationslücken“ (S. 260) ausfüllt. Nur hat das einen leicht tautologischen Touch, der besonders da ins Auge springt, wo etwa die von der AfD „generierte bipolare Struktur der Polarisierung“ (S. 258) Thema ist. Wichtiger sind die Hinweise, dass der Aufstieg der AfD gewissermaßen mit Rückendeckung der etablierten Parteien, mit „seriösen“ Expertisen eines Ex-Finanzpolitikers Sarrazin oder eines VWL-Professors Lucke, über die Bühne gegangen ist: Hier hat sich ein Angebot des „enttäuschten Bürgertums“ (S. 259) präsentiert, das schon mit dem ersten Auftritt seine Politikfähigkeit unter Beweis stellte.