Dietz-Verlag, 485 Seiten
30 Autor*innen, 23 Fachartikel – der Sammelband will „das Phänomen (der Digitalisierung) in der Breite erfassen“ (S. 19). Mit den Abschnitten „Staat und Politik“, „Wirtschaft und Arbeitswelten“ und „Gesundheit und Technologie“ ist das Feld in der Tat breit abgesteckt. Über die Auswahl von Themen lässt sich immer trefflich streiten. Dennoch sei die Frage erlaubt, warum die hochaktuellen Themen „Sozialer Zusammenhalt versus Polarisierung im Netz“ oder „Besteuerung von digitalen Tech-Firmen“ nicht aufgegriffen wurden, hingegen das Thema „Plattform-Ökonomien“, welches nach eigener Aussage bislang noch ein Nischendasein führt.
Dessen ungeachtet enthält der Band eine Fülle von Informationen, Analysen und interessanten Autor*innen (knapp die Hälfte sind weiblich), sodass die Leserin in jedem Fall klüger hinausgeht als sie hineingegangenen ist. Es ist ein Fundus an Themen, Argumenten und Expert*innen für die außerschulische Bildung. Neben Grundsatzartikeln gibt es Praxisbeispiele – und da spiegelt das Buch die Schwierigkeit vieler aktueller Digitalisierungsdebatten wieder: Während auf der Makro-Ebene in vielen Aspekten Konsens besteht – z. B. Digitalisierung muss gestaltet werden, sie muss dem Menschen dienen –, liegt die Wahrheit de facto auf der Umsetzungsebene: im Betrieb, in der Schule, in der Verordnung, im Gesetz. Und da werden die Leerstellen offensichtlich. So beschreibt Oerder in „Digitalisierung und Mitbestimmung“, wie wichtig es ist, die Belegschaft bei der Digitalisierung mitzunehmen. Akzeptanz und Vertrauen sind wichtige, aber weiche Forderungen. Mitbestimmung auf der Basis des Betriebsverfassungsgesetzes ist eine Kern- und Machtfrage. Sie stellt nicht die Frage: Ab wann sind selbstlernende Software-Systeme mitbestimmungspflichtig? Was, wenn es keinen Betriebsrat gibt? Das Beispiel einer Reinigungsfirma (Rossbrey) zeigt das große Potenzial der Branche für Digitalisierung von Arbeitsprozessen – von Logistik bis Reinigungsroboter –, aber die Frage nach der Zukunft jener Mitarbeiter*innen, die nicht in der Lage sind, solche Roboter zu bedienen oder die auf Grund verbesserter Logistik nicht mehr gebraucht werden, wird zwar gestellt – aber nicht beantwortet. Welche Verantwortung trägt der Betrieb für ihren weiteren Einsatz, für ihre Weiterbildung? Ist die Bundesagentur für Arbeit auf diese Menschen vorbereitet? Wird aus einer Vermittlungsagentur eine „Agentur für Lebenslanges Lernen“? Wie kann die Beratung von Kleinen und Mittleren Unternehmen diesbezüglich aussehen?
Ähnlich die Beispiele aus dem Gesundheitswesen: Sie beschreiben die Technologie – was für Fachfremde hochgradig spannend zu lesen ist – und ordnen sie zum Teil auch kritisch ein (in diesem Sinne sehr gut: der Artikel von Geitz zu Psychiatrie), bleiben aber vor den Antworten stehen. Wie muss computergesteuerte Assistenz aussehen und kontrolliert werden, damit sie dem Menschen dient? Pütz nimmt die Leserin mit in die Welt der hyperspektralen Punktwolke und erläutert, wie durch Künstliche Intelligenz die Bewässerung in der Landwirtschaft halb-autonom gesteuert werden kann. Welche Auswirkungen hat das auf die Feldarbeit? Diese Frage stellt Pütz nicht.
Buhr und Frankenberger sowie Behrmann greifen das Thema „Innovation“ auf und beschreiben, dass neue Ideen nicht im stillen Kämmerlein entstehen, sondern im interdisziplinären Verbund. Basis-orientierte Anstöße, z. B. von Hackathons, werden nur einführend erwähnt, dabei liegt m. E. hier ein großes Potenzial für Erfindungsreichtum, der der Menschheit dient: „Fachleute der eigenen Sache“ entwickeln Lösungen für Probleme, die wirklich welche sind – und sich nicht F&E-Abteilungen ausdenken, um ein neues Produkt zu verkaufen. Hier zeigt sich die zweite Krux: Das Buch erscheint in der „Schriftenreihe Interdisziplinäre Perspektiven“, lebt aber nicht den Ansatz des vernetzten Denkens: Was wäre herausgekommen, wenn man all die 23 Spezialist*innen in einen Raum zusammengebracht hätte, um gemeinsam die Fragestellung zu definieren und Lösungen zu entwickeln? Es wäre einen Versuch wert gewesen.