Politische Bildung ist Teil gesellschaftspolitischer Entwicklungen und deshalb gleichermaßen permanenten Veränderungen unterworfen. Deshalb ist die Überarbeitung des Buches „Politische Kritische Bildung: Ein Handbuch“ nach zehn Jahren wichtig. Die „kritische politische Bildung“ nimmt für sich in Anspruch, im Gegensatz zur „politischen Bildung“ – das Standardwerk von Wolfang Sander erscheint im selben Verlag – herrschafts- und machtkritisch zu bilden und nicht ausschließlich zum Verständnis der Verhältnisse und Systeme beizutragen. Inwiefern die politische Bildung auf der Grundlage des Beutelsbacher Konsenses mit Überwältigungsverbot, Kontroverse und Selbstermächtigung tatsächlich „unkritisch“ ist und es dazu einen Gegenentwurf braucht, sei dahingestellt. Aber in der Tat geht das Handbuch „Kritische politische Bildung“ mehr in die Tiefe der Problemzonen der politischen Bildung: die kontroverse Debatte um Extremismusprävention und dem zu Grunde liegenden Modell; eine Auseinandersetzung mit internationalen Freiwilligendiensten „zwischen emanzipatorischer Bildung und kolonialen Kontinuitäten“; ein starker Fokus auf Methoden und Räume mit und in denen Soziale Arbeit agiert („Aufsuchende politische Jugend- und Erwachsenenbildung“); ein kritischer Blick auf Träger und Förderpolitik und unternehmensnahe Stiftungen – um nur einige zu nennen.
Das Buch ähnelt einem wissenschaftlichen Sammelband. Deshalb ist die Bezeichnung „Handbuch“ etwas irreführend: Es liefert nur bedingt Orientierung, gibt aber lehrreiche Einblicke in bestimmte Einzel-Themen. Wenn auch anders benannt und sortiert unterscheiden sich die Schwerpunkte nicht grundlegend vom ersten Handbuch. Auch in der aktualisierten Ausgabe überwiegen wissenschaftlich-theoretische Beiträge. Neu aufgenommen wurde das Thema „inklusive politische Bildung“ und die kritische Analyse der Träger- und Förderlandschaft. Auch der Tatsache, dass viele Menschen über das Tun zum Verstehen kommen, trägt nun ein Beitrag Rechnung („Soziale Bewegungen als Bildungsraum“). Hier drängt sich die Frage auf: Wie steht es um das Verhältnis von politischer Bildung zu demokratisch gewählter Mandatsträgerschaft? Gerade in Zeiten, die zeigen, wie nicht-demokratische Akteure das demokratische System für sich nutzen, muss es meines Erachtens ein Ziel politscher Bildung sein, möglichst viele Demokrat*innen in Mandate zu bringen, sei es als Bezirksbeirätin oder Bundeskanzler, sei es als Ortsvereinsvorsitzender oder Generalsekretärin. Wie kann man die Übergänge vom Lernen zum Ausprobieren hin zur Übernahme struktureller Verantwortung gestalten? Der Beitrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung als politische Stiftung wäre hier eine Chance gewesen, darüber nachzudenken. Doch möchte dieser „die Verhältnisse zum Tanzen bringen“ und fokussiert sich ebenfalls auf die Emanzipation des Individuums.
Dass trotz der über die letzten zehn Jahre gewachsenen Bedeutung von Digitalität ihr lediglich ein Artikel gewidmet ist, verwundert. Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen mittlerweile gleichermaßen in der analogen wie in der digitalen Welt zu Hause sind, ist Digitalität mehr als ein medien-didaktisches Thema. Es geht nicht mehr ausschließlich darum, das Funktionieren von digitalen Medien und Plattformen zu verstehen und kritisch zu hinterfragen. Politische Bildung muss den digitalen Raum als Handlungsraum annehmen – als Ort, wo man Menschen erreicht, wo diskutiert und gebildet wird. Auch hier kann politische Bildung von der Sozialen Arbeit lernen.
Die Vielfalt der Autor*innen schöpft leider nicht das mögliche interdisziplinäre Potenzial aus: Alle Beiträge generieren sich aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Wichtige Erkenntnisse zum Beispiel aus der Psychologie, Neurologie oder auch Mathematik fließen nicht ein (siehe dazu die erhellenden Artikel von Vajen et al., Bickhardt oder Friedrich in Kenner/Oeftering 2022: Standortbestimmung oder auch Metje 2023: Gefühlspolitische Selbst-Bildung). Hier werden vermeintlich unerschütterliche Annahmen der politischen Bildung auf den Kopf gestellt, zum Beispiel, dass der Mensch im Grunde ein aufgeklärtes Wesen ist, das nach Selbstermächtigung strebt, so es denn die Möglichkeiten dazu hat. Schaut man mit dem Blick der Verhaltensökonomie darauf, bestimmen Routinen und die materielle Situation sehr viel stärker das Handeln des Menschen (Friedrich). Auch sind Gefühle integraler Bestandteil von Wahrnehmung und Handeln (Metje). Wie kritisch damit in der politischen Bildung umgehen? Diese und ähnliche Erkenntnisse aufzugreifen wäre ein lohnender Ausblick gewesen und eine Gelegenheit, den kritischen Blick nicht nur nach Außen, sondern auch auf sich selbst zu richten.