Außerschulische Bildung 4/2021

Zentralrat der Juden in Deutschland (Hrsg.): „Du Jude“

Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen

Leipzig 2020
Hentrich & Hentrich, 272 Seiten
 von Lea Güse

Nicht bloß in den zahlreichen Verschwörungsmythen der Querdenker*innen, in Angriffen auf Juden, Jüdinnen sowie Synagogen oder in Boykottaufrufen, die den israelischen Staat treffen sollen, artikuliert sich Antisemitismus. Auch auf dem Schulhof oder im Jugendtreff ist antisemitische Gewalt in Wort und Tat omnipräsent. So enthält „Du Jude“ als Schimpfwort eine Weltanschauung, in der Juden etwas Negatives zugeschrieben wird und zielt auf ihre Herabwürdigung. Diese erfordert ein ernstgemeintes Vorgehen: auf politischer, juristischer sowie pädagogischer Ebene. Letzterer widmet sich dieser Sammelband und diskutiert neueste Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung hinsichtlich möglichem und nötigem pädagogischen Handeln.

Einführend werden im ersten Teil „Positionen und Problembestimmungen“ die Aktualität und Virulenz der Judenfeindschaft – 76 Jahre nach Auschwitz – von Personen aus Politik und Zivilgesellschaft deutlich gemacht. So äußert sich Salomon Korn zu der Schwierigkeit, den Antisemitismus „zu fassen, weil es einem Chamäleon gleich seine Erscheinungsform ändert und unterschiedlichen Gegebenheiten anpasst“ (S. 15). Dabei sollen Studien helfen den Begriff weiter einzugrenzen, deren Erkenntnisse effektiv für pädagogische Konzepte genutzt werden sollen. Dr. Felix Klein plädiert einerseits für ein Sichtbarmachen von Juden und Jüdinnen als „Gestalter der deutschen Geschichte, Kultur und Wissenschaft“ (S. 21) und nicht nur als Opfer im Schulunterricht. Andererseits macht er auf das lebendige jüdische Leben in Deutschland aufmerksam, das zu beschützen Aufgabe des Staates und der Zivilgesellschaft sei.

Im zweiten Teil „Antisemitismus: Kontinuitäten und Metamorphosen“ befassen sich Wissenschaftler*innen mit zeitgenössischen Erscheinungsformen des Antisemitismus sowie ihrem historischen Wandel. Yael Kupferberg beschäftigt sich mit dem Antisemitismus, der nach der Shoah mit einem Tabu belegt wurde. Dieser gesellschaftliche Konsens, in dem Antisemitismus in die Latenz ge- und verdrängt wurde und jegliche Grenzübertretung sanktioniert wird, droht u. a. mit dem Erstarken der AfD weiterhin aufzuweichen und judenfeindliche Ressentiments salonfähiger zu werden. Als eine Eigenschaft der „autoritären Persönlichkeit“, die in den „Studien zum autoritären Charakter“ des Instituts für Sozialforschung in den 1930er Jahren erforscht wurde, wird die Weigerung Erfahrungen zu machen in dem Artikel der Erziehungswissenschaftlerin Christiane Thompson aufgegriffen. Diese nimmt sowohl die Verbindung von Autoritarismus und Antisemitismus in den Blick, als auch den wegweisenden Radiovortrag Theodor W. Adornos „Erziehung nach Auschwitz“.

Im dritten Teil „Studien und Befunde“ werden aktuelle Erhebungen der Antisemitismusforschung und ihre pädagogischen Implikationen vorgestellt. Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum setzt einleitend ein paar ausgewählte Studien in den historischen Kontext der Nachkriegszeit und fordert die sogenannte Mitte der Gesellschaft in den Blick und in die Verantwortung zu nehmen. Die Studie von Julia Bernstein und Florian Diddens beschäftigt sich mit den Perspektiven Betroffener auf Antisemitismus in Schulen. In der Studie von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz wurden ebenfalls in einem Teil Erfahrungen Betroffener mit Antisemitismus erfragt. In einem zweiten Teil richtet sich dann das Erkenntnisinteresse u. a. auf den Umgang mit Antisemitismus von Lehrkräften.

Im vierten und letzten Teil „Antisemitismuskritische Bildung“ werden Fragen, Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen eines pädagogischen Handelns gegen Antisemitismus diskutiert. So sieht Thomas Eppenstein ein zentrales Spannungsfeld antisemitismuskritischer Bildungsarbeit zwischen latentem und manifestem Antisemitismus einerseits und „einem gleichlaufenden Desinteresse am Thema und entsprechend einem fehlenden Lerninteresse“ (S. 223) andererseits. Deborah Krieg beschäftigt sich mit der Frage, wie der Heterogenität der Bildungsnehmer*innen Rechnung getragen werden kann und schlägt einen pädagogischen Raum vor, in dem weniger Identitäten, vielmehr Erfahrungen im Vordergrund stehen.

Insgesamt sind die Artikel in ihrer Argumentation nachvollziehbar und bieten in Gänze einen guten Überblick über aktuelle Fragestellungen und Erkenntnisse der Antisemitismusforschung, wie der politischen und historischen Bildungsarbeit und nehmen Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen wahr. Eine besondere Stärke dieses Sammelbandes liegt meines Erachtens auch darin, dass nicht nur antisemitische Einstellungen und pädagogische Antworten darauf in den Blick genommen werden, sondern auch die Perspektiven von Betroffenen. Stimmen, die sich im politischen sowie medialen Diskurs nicht in ausreichendem Maße Gehör verschaffen können und sich in ihren Sorgen und Ängsten nicht ernst genommen fühlen.

Lea Güse ist Erziehungswissenschaftlerin und Bildungsreferentin im LidiceHaus Bremen, Modellprojekt „akriba – Antisemitismuskritische Bildungsarbeit“.