Kritische Anmerkungen zum AdB-Jahresthema 2021
Jeder ist gegen Rassismus. Kaum etwas fällt dem liberalen, akademisch gebildeten, sich selbst in der politischen Mitte – oder im Zweifel links davon – verortenden Mitteleuropäer leichter, als jede Form von Rassismus weit von sich zu weisen. Gleichzeitig vertreten gerade aus diesem Personenkreis sehr viele die Meinung, dass Rassismus ein großes gesellschaftliches Problem sei – das im Regelfall aber andere betrifft. Auch ohne konkreten empirischen Beleg ist es nicht vermessen zu behaupten, dass die in der politischen, sozialen, historischen und kulturellen Bildung Tätigen eine hohe Schnittmenge mit eben diesem Personenkreis aufweisen dürften. Von daher ist es grundsätzlich ein lobenswerter Ansatz des AdB, mit dem Jahresthema 2021 und dem Projekt „Polyphon! Diversität in der politischen Bildung stärken“ etablierte Denk- und Verhaltensweisen, vermeintliche Wahrheiten und politische Glaubenssätze in Frage zu stellen.
Was ist also das Problem? Der vom AdB verfolgte Ansatz stützt sich im Wesentlichen auf die Theorien der postkolonialistischen Rassismuskritik und der sogenannten Critical Whiteness. Obwohl ich im Folgenden meine Probleme mit und Kritik an diesem Ansatz, den zugrundeliegenden Annahmen und Schlussfolgerungen darstellen und argumentativ begründen möchte, will ich gleich zu Beginn etwas grundsätzlich anmerken: Ja, es gibt strukturellen oder systemischen Rassismus. Es gibt unbewusste Vorurteile und es gibt das, was der französische Historiker Fernand Braudel als lange Wirkungszeit (longue durée) der Geschichte bezeichnete. Einige Vorstellungen über die Welt sind – subtil und dennoch tief – in uns verankert, selbst, wenn wir sie bei bewusster Betrachtung ablehnen.
Die vom AdB in den Fokus gestellte Form der Rassismuskritik läuft aber aus meiner Sicht Gefahr, dem guten Ansinnen einen Lichasdienst zu erweisen. Mögen auch in der rassismuskritischen Theorie heterogene Ansätze bestehen, so kann die grundlegende Prämisse nicht losgelöst von gesellschaftlichen Diskussionen (man könnte auch sagen, einem Kulturkampf) betrachtet werden, die insbesondere in Europa und Nordamerika derzeit mit äußerster, polarisierter Schärfe geführt werden. Stichwörter wie „Identitätspolitik“, „Cancel Culture“, „kulturelle Aneignung“ und „Wokeness“ sind zu ideologischen Kampfbegriffen geworden, die auf Kopfdruck bestimmte Mechanismen auslösen.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat am 22. Februar 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Gastbeitrag mit dem Titel „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“ verfasst. Damit hat er nicht nur in seiner Partei, der SPD, heftige Reaktionen ausgelöst. „Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender werden heftiger und aggressiver. Identitätspolitik darf nicht zum Grabenkampf werden, der den Gemeinsinn zerstört.“ (Thierse 2021) Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte: „Der traditionelle Linke Thierse verteidigt die Errungenschaften der Moderne, des Liberalismus und des Individualismus gegen eine Haltung, die sich für noch linker und progressiver hält. In Wirklichkeit ist sie antimodern und ziemlich reaktionär. Die Protagonisten der neuen Identitätspolitik schließen an uralte Traditionen kollektiver Politik an.“ (Gujer 2021) Diese Aussage mögen viele als provokant empfinden, sie verdeutlicht aber, dass die sehr reale Gefahr besteht, alte Stereotype durch neue zu ersetzen, Menschen anhand bestimmter oberflächlicher Merkmale Etiketten aufzudrücken und dem Senden bestimmter „korrekter“ Codes größere Bedeutung einzuräumen als der unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt.
Ich möchte gerne meine Probleme des bisherigen Umgangs mit dem komplexen Thema in einigen Punkten erläutern.
Bereits der Titel des Jahresthemas „Was WEISS ich?“ suggeriert – selbst wenn er lediglich verfestigte Einstellungen aus dem Blick der Mehrheitsgesellschaft hierzulande meinen soll(te) – dass Rassismus ein genuines Problem von „weißen“, europäisch-stämmigen Menschen gegenüber dem Rest der Welt sei. Es ist richtig, dass insbesondere in der Zeit des Hochimperialismus aus Europa, in Form von Rassentheorien und Völkerpsychologie, pseudowissenschaftliche Grundlagen für rassistische Ressentiments und Diskriminierungen geliefert wurden, die auch in anderen Teilen der Welt, z. B. in Ostasien, auf fruchtbaren Boden fielen. Dennoch verkennt es die Tatsache, dass Rassismus – in vielen Fällen eher kultureller Chauvinismus – ein Phänomen ist, welches die gesamte Menschheitsgeschichte durchzieht und überall auf der Welt zu finden ist. In Geschichte und Gegenwart gibt es zahllose ethnische Konflikte und rassistische Einstellungen, die mit Europa, dem Westen oder den „Weißen“ überhaupt nichts zu tun haben. Der Ansatz ignoriert auch den Unterschied zwischen diffusem Rassismus gegenüber weitgehend unbekannten Völkern „in der Ferne“ (wie er in der Zeit des Kolonialismus kennzeichnend war) und Rassismus gegenüber Minderheiten in der Gesellschaft, denen real im Alltag begegnet wird.
„Die rassistischen Wissensbestände gründen insbesondere auf kolonialen und nationalsozialistischen Vorstellungen“, schreibt der AdB in seiner Stellungnahme (www.adb.de/stellungnahme/was-weiss-ich-rassismuskritisch-denken-lernen; Zugriff: 06.09.2021). Das ist nicht falsch, aber sehr verkürzt und politik- wie geschichtswissenschaftlich einseitig. Um einmal eine andere Perspektive zu verdeutlichen, hier ein Beispiel, welches der Schweizer Diplomat Hans Jakob Roth beschreibt: „In Ostasien hingegen ist noch heute ein oft erschreckender Rassismus gegenwärtig (…) und zwar in einer Art, wie es heute in Europa nicht mehr möglich ist.“ Roth führt weiter aus, dass die ethnische Homogenität der Bevölkerungen in China, Japan und Korea sehr hoch sei, dies die Eigen- und Fremdwahrnehmung relativ einfach mache und dieser Umstand mitunter politisch missbraucht werde. „Die Abgrenzung gegenüber den anderen ist zudem auch darum einfach, weil innenpolitisch kaum dagegen opponiert wird – man gehört ja dazu. (…) Einfacher Rassismus ist in nichteuropäischen Ländern tendenziell auch deshalb ausgeprägter, weil sich der Einzelne im Gegensatz zu Europa nie vom Ganzen gelöst hat. Während Renaissance und Aufklärung im Westen zur Individualisierung und zur Schwächung der Gruppenbindung führten, erfolgte in anderen Weltregionen nie eine vergleichbare Loslösung. Daher ist die Einteilung der Welt in Eigengruppe und Fremdgruppen hier nach wie vor stärker wirksam als im europäischen Kontext.“ (Roth 2020)
Ohne die existierenden Probleme leugnen zu wollen, kann durchaus behauptet werden, dass im globalen Kontext nirgendwo (harter wie auch subtilerer) Rassismus weniger akzeptiert ist als in der sogenannten westlichen Welt. Nicht rassistische Einstellungen nehmen zu, sondern die Sensibilität gegenüber diesen.
Auch wenn es in der Rassismuskritik und der aktivistischen identitätspolitischen Bewegung vielfach anders behauptet wird, ist es auch nicht so, dass Menschen mit weißer Hautfarbe grundsätzlich über einen privilegierten Status verfügen. Dies kann in einem bestimmten Kontext so sein, und er ist sicherlich nicht selten, Gegenbeispiele finden sich allerdings ebenso. In den USA gibt es den Begriff des „white trash“, deren Angehörige sich mit Sicherheit nicht privilegiert gegenüber einer nicht-weißen amerikanischen Mittelschicht (die es ja auch gibt) fühlen und es de facto wohl auch nicht sind.
Der Philosoph Philipp Hübl meint hierzu: „Inspiriert von der ‚Critical Race Theory‘ ist im Extremfall jetzt jeder ein Rassist, wenn er einer Gruppe angehört, die im Mittel sozioökonomisch bessergestellt ist als eine nicht-weiße oder zugewanderte Minderheit. Darauf folgt oft der Fehlschluss, jeder Weiße würde vom ‚System‘ irgendwie ‚profitieren‘. Diese Annahmen beruhen nicht mehr auf empirischen Daten, sondern auf diffusen Vorstellungen von Macht und implizierten Stereotypen, die sich angeblich ‚reproduzieren‘. Doch die Forschung zu vermeintlichen ‚unbewussten Vorurteilen‘ ist extrem umstritten.“ (Hübl 2021)
Individuelle Haltungen sollten, trotz aller gesamtgesellschaftlichen Dimensionen, nicht zu Gunsten von Gruppenidentitäten nivelliert werden; im Positiven wie im Negativen.
Sozialwissenschaftlich problematisch – und für die Diskussion in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft nicht ungefährlich – ist die Gleichsetzung von objektiven Benachteiligungen (divergierende Rechte und Pflichten, Einkommensunterschiede etc.) mit subjektiven, gefühlsbasierten Faktoren (Kränkung, Verletzung etc.) als gleichberechtigte Fakten. Das Zweite ist nicht nur empirisch kaum fassbar, sondern auch in höchstem Maße individuell, biografie- und kontextabhängig. Vorsicht ist auch immer bei Vereinnahmungen durch Interessengruppen geboten, die als Anwälte der Benachteiligten und moralische Autorität meinen definieren zu können, wie Millionen (wenn nicht Milliarden) von Menschen bezeichnet und behandelt werden wollen.
Der türkisch-stämmige Soziologe Levent Tezcan erklärt: „Seit einiger Zeit wird in Deutschland und der Welt heftig über Rassismus diskutiert. Die Debatte kann dabei, wie einige Indizien andeuten, auch eine gefährliche Wendung nehmen. Die Rassismuskritik führt dann nicht mehr zu neuer Solidarität, sondern dient dem Zelebrieren eines affirmierten Opferstatus und droht zur Selbstbestätigung auszuarten. (…) Diskriminierungswahrnehmung, diese scheinbar unbestreitbare Erfahrung, stattet ihre Sprecher gleich mit dem moralischen Anspruch aus, bereits dadurch im Besitz der Wahrheit zu sein. Unablässig prangern sie das rassistische Ressentiment an, sind aber selbst voll Ressentiments gegenüber denjenigen, die sie für die Dominanten halten. (…) Während ‚Weiße‘ nicht keine Rassisten sein können, kann ich gar nicht rassistisch sein. Welch ein Glück? Ich fühle mich ganz und gar diskriminiert, wenn mir die Möglichkeit genommen wird, rassistisch sein zu können. Rassistisch sein zu dürfen, ist und bleibt ein ‚weißes Privileg‘.“ (Tezcan 2020)
Ebenso soll auch noch darauf hingewiesen sein, dass die Debatte derzeit stark von Szenarien und Akteuren in den USA dominiert wird. Die Situation in den Vereinigten Staaten lässt sich jedoch nur sehr bedingt auf die in Deutschland und Europa übertragen. Dies fängt mit der Bedeutung des Begriffes „race“ an, welcher eine ganz andere Bedeutung hat als das in der deutschen Sprache geächtete Wort „Rasse“. In den USA geht es dabei u. a. um Zensus-bezogene Selbstzuordnungen, bei denen auch sozioökonomische Faktoren eine Rolle spielen. Außerdem ist eine multiethnische Einwanderungsgesellschaft – mit historisch gewachsenen „Einwandererhierarchien“ – und einem auf dem Ius soli basierenden Staatsbürgerschaftsrecht nicht mit der historischen Entwicklung und der heutigen gesellschaftlichen Verfasstheit europäischer Nationalstaaten vergleichbar. Importiert man die gegenwärtige Diskussion in den USA einfach nach Europa, besteht die Gefahr, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Zusammenfassend gibt es vor allem drei Dinge, die mich an der postkolonialistischen Rassismuskritik und ihrem identitätspolitischen Aktivismus bzw. am Umgang des AdB mit diesem Ansatz stören.
Erstens verkürzt, vereinfacht oder negiert der theoretische Ansatz die tatsächliche Komplexität und Vielfältigkeit ethnisch-kultureller Konflikte und Formen rassistischer Denkweisen. Stattdessen presst er alles krampfhaft in das immer gleiche Erklärungsmuster westlicher kolonialer Intervention. Der eigentlich angeprangerte Eurozentrismus wird hier lediglich unter umgekehrten Vorzeichen bedient.
Zweitens, und das ist bedeutend wichtiger, besteht die Gefahr, Rassismus mit einem moralisch-aufklärerisch-verbrämten „Gegenrassismus“ zu beantworten. Es ist mir bewusst, dass Vertreter der Rassismuskritik den Begriff „Weiß“ nicht explizit auf die Hautfarbe beziehen, sondern allgemein auf Menschen, die keine Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit erfahren. Doch selbst wenn dies so wäre, ist es mindestens unglücklich, da dies im allgemeinen Sprachgebrauch bzw. Verständnis so nicht nachvollzogen wird und eher zu Abwehrreaktionen führt. Das Etablieren von Täter- und Opferhierarchien ist eine Anmaßung, die individuelle Verantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit letztendlich unmöglich macht. Das Recht, sich über alles in jeder Form äußern zu dürfen, wird von kollektivistischen Fremdzuschreibungen und selbsternannten politisch-moralischen Instanzen abhängig gemacht. „Individuelle Empfindungen, Meinungen oder Interpretationen einzelner dürfen nicht zu einer normierenden Beschränkung aller werden. Sonst wird ein Klima der Unsicherheit geschaffen, das die notwendige Freiheit der demokratischen Meinungsbildung und den rationalen gesellschaftlichen Diskurs behindert.“ (Brendel 2021)
Der dritte und letzte Punkt betrifft schließlich den bisherigen Umgang des AdB als Verband mit dem Thema unter den selbstgewählten Maßgaben der postkolonialistischen Theorie. Meinen dargelegten Standpunkt mag man teilen oder auch nicht. Er ist sicherlich (be-)streitbar und das sollte stets ein Grundpfeiler der politischen Bildung sein. Der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten ist ein Verband durchaus heterogener Bildungseinrichtungen. Politische Bildung ist nicht wertneutral, sondern fußt auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und den Menschenrechten. Zweifelsohne ist die Positionierung gegen Rassismus ein Teil dieses gemeinsamen Wertekanons. Die zuvor beschriebenen wissenschaftlichen und politischen Annahmen – wie auch immer man zu ihnen steht – gehen darüber hinaus und stellen einen legitimen, aber eben nur einen Standpunkt dar. Das eigentliche Problem liegt darin, dass der AdB aus meiner Sicht eine Grenze von der (auch durchaus wertegebundenen) politischen Bildung zum politischen Aktivismus überschreitet, wenn er diesen als Faktum darstellt und von seinen Mitgliedern als handlungsleitend einfordert. Auch vor dem Hintergrund des Kontroversitätsgebots halte ich diese Fokussierung für bedenklich.
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