Politische Bildung mit Menschen mit Behinderung am Beispiel einer Bildungsreise nach Strasbourg
Politische Bildung mit Menschen mit Behinderung
Die Bedeutung politischer Bildung für die Demokratie und die Bürger*innen, welche die Demokratie lernen und leben müssen (vgl. Negt 2010), scheint in keinem guten Verhältnis zur Teilnahme von Erwachsenen an politischen Bildungsangeboten zu stehen. Diese Einschätzung spiegelt sich in einschlägigen Analysen wider, wie etwa der Weiterbildungsstatistik oder der Volkshochschulstatistik (vgl. Horn et al. 2021; Huntemann et al. 2021), die neben anderen Aspekten auch die Teilnahmequote von Erwachsenen an entsprechenden Veranstaltungen analysieren. Dieser Befund würde vermutlich noch schlechter ausfallen, wenn die politische Bildung mit Menschen mit Behinderung bzw. die Teilnahmequote dieser Zielgruppe einer genauen Untersuchung unterzogen würde. So macht ein Blick in die Fachliteratur zur politischen Bildung und ihrer Didaktik deutlich, dass es sich bei der politischen Bildung mit Menschen mit Behinderung um einen Randbereich handelt, der im engeren Sinne im Kontext des Diskurses um eine inklusive politische Bildung (vgl. Meyer et al. 2020) und eine Didaktik inklusiver politischer Bildung (vgl. Dönges et al. 2015) und im weiteren Sinne im Diskurs um eine inklusive Bildung (vgl. Expertenkreis Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission 2019) und eine inklusive Didaktik (vgl. Reich 2014) eingebettet ist. In diesen Diskursen steht die formale Bildung bzw. Didaktik einer formalen Bildung jedoch klar im Fokus, wie auch die bildungspolitische und wissenschaftliche Diskussion um Inklusion an Schulen bzw. inklusive Schulen unterstreicht.
Politische Bildung mit Menschen mit Behinderung ist in der Praxis in unterschiedliche pädagogische Kontexte eingebettet, wie die Transferstelle für politische Bildung mit ihrer „Topographie der Praxis“ (Transfer für Bildung 2021) veranschaulicht. Dies betrifft beispielsweise die Schnittstellen von politischer Erwachsenenbildung und politischer Jugendbildung bzw. Sozialer Arbeit mit Erwachsenen und außerschulischer politischer Jugendbildung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, welche gemeinsame Ziele (z. B. Empowerment, Partizipation) verfolgen. Dieser Überschneidungsbereich fällt aufgrund der Träger- und Angebotsstruktur der non-formalen politischen Bildung bzw. Sozialen Arbeit sehr heterogen aus und gilt als wenig erforscht (vgl. Thimmel/Schäfer 2020).

Vor dem Hintergrund mangelnder Erfahrung zur politischen Bildung mit Menschen mit Behinderung setzte sich die Akademie Frankenwarte Würzburg im Rahmen des von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb geförderten Modellprojekts „Wer braucht denn Demokratie? Niedrigschwellige, aufsuchende politische Bildung für schwer erreichbare Zielgruppen entwickeln, durchführen und evaluieren“ mit der Frage auseinander, welche Dinge es bei der Planung und Durchführung einer Bildungsreise zu beachten gilt, wie im Folgenden erläutert werden soll.
Eine Bildungsreise nach Strasbourg
„Europa (vor Ort) erleben: Wir ALLE gehören dazu!“ lautete der Titel eines fünftägigen Seminars, das mit dem Unternehmensverbund Mainfränkische als Kooperationspartner gemeinsam mit den folgenden Worten beworben wurde: „Es war einmal … eine tolle Idee, dass Menschen in Europa sich besser kennenlernen und ihre Probleme gemeinsam lösen. So entstand die Europäische Union, zu der heute 27 Länder gehören. Im Europäischen Parlament in Strasbourg arbeiten viele Politiker*innen aus diesen Ländern daran, wie wir gut zusammenleben können. Strasbourg ist eine Stadt in Frankreich. In Strasbourg können wir an vielen Plätzen sehen, wie Menschen vor langer Zeit alte Feindschaften und schlimme Kriege beendet haben. Das alles wollen wir uns anschauen und darüber reden und die europäische Idee mit nach Hause nehmen.“
Wie die 17 Teilnehmenden und das Bildungsteam der Akademie Frankenwarte, bestehend aus der Leiterin der Akademie, einer Sozialarbeiterin, einem Studenten der Politikwissenschaft, einer Schülerin der Heilerziehungspflege und einer Assistenzperson, diese fünf Tage gemeinsam gestalteten, wird an dieser Stelle in der gebotenen Kürze dargestellt.
Die Fahrzeit nach Strasbourg wurde genutzt, um französische Wörter, die im Alltagsgebrauch wichtig sind, anhand einer Piktogramm-Tabelle einzuüben. Gemeinsam erkundete die Gruppe am ersten Tag das Tagungsareal, legte Verhaltensregeln fest und beschäftigte sich mit europabezogenen Themen (z. B. die Sage von Europa und dem Stier oder die Umsetzung der „Europäischen Idee“). Am zweiten Tag wurden Ziele und Aufbau der Europäischen Union und ihrer Institutionen auf einem Plakat festgehalten sowie ein Puzzle einer Landkarte von Europa zusammengesetzt. Als erstes Highlight fand ein Stadtrundgang statt, der sich auf die deutsch-französische Geschichte konzentrierte. Ausgestattet mit Umhängetaschen in einer auffälligen Farbe und darin enthaltenem Zettel mit Adresse und Telefonnummern in beiden Sprachen, genossen die Teilnehmenden die anschließende freie Zeit in Kleingruppen. Nächster Höhepunkt war am dritten Seminartag das Gespräch mit MdEP Kathrin Langensiepen, eine der wenigen Abgeordneten im Europäischen Parlament mit Behinderung. Die Parlamentarierin erläuterte ihren Weg in die Politik und beschrieb, wie sie sich auf europäischer Ebene konkret für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzt. Anhand von Bildern, die sich die Teilnehmenden aussuchen konnten, wurde das „Haus Europa“ visualisiert, indem einzelne Politikbereiche anhand von Beispielen veranschaulicht wurden. Via Livestream wurde ein Teil der Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verfolgt und anschließend diskutiert. Ein Besuch des Europäischen Parlaments am vierten Tag, inklusive Teilnahme an einer Plenarsitzung, und des TV-Senders ARTE ermöglichten weitere interessante Einblicke vor Ort. Themen der Gruppenarbeit, die in den Seminareinheiten von den Teilnehmenden ausgewählt, bearbeitet und diskutiert wurden, waren „Inklusion und Barrierefreiheit“, „Innere Sicherheit“, „Außen- und Sicherheitspolitik“, „Hassrede und Falschinformationen im Netz“. Mittels eines Plakates und einer Collage wurden am letzten Tag „Wünsche an die EU“ zusammengestellt.

Exemplarische Herausforderungen bei der Planung und Durchführung
Bei der Planung und Durchführung dieses Bildungsangebots waren unterschiedliche Herausforderungen vom Bildungsteam zu bewältigen. Aufgrund der neurodiversen Einschränkungen der Teilnehmenden und des Betreuungs- und Unterstützungsbedarfs war die Heterogenität im direkten Vergleich zu bisherigen Teilnehmendengruppen der Akademie Frankenwarte deutlich stärker ausgeprägt. Dies betraf beispielsweise die folgenden Aspekte:
Wissen über Politik: Einige Teilnehmende verfügten über keinerlei Kenntnisse, insbesondere im Kontext von Europa und der Europäischen Union. Andere waren informiert, wieder andere verfolgten das Geschehen durchaus interessiert, einzelne sehr intensiv. So war eine Teilnehmerin politisch aktiv, indem sie sich in Social Media als selbsternannte „Incluencerin“ – in Anlehnung an den Begriff der Influencerin – für Inklusion einsetzte. Daher musste sich das Bildungsteam an den verschiedenen Wissensniveaus der Teilnehmenden orientieren und die Themen differenziert behandeln.
Lese- und Schreibfähigkeit: Zwei Teilnehmende konnten weder lesen noch schreiben, sodass das Bildungsteam die Kommunikation so gut wie möglich unterstützte (z. B. durch Vorlesen, Mitschreiben oder mittels Piktogrammen zur Visualisierung des Gesagten oder Geschriebenen). Der Einsatz klassischer Methoden der politischen Bildung war aufgrund der neurodiversen Einschränkung nicht oder nur in sehr eingeschränkter Weise und mittels Hilfestellung möglich. Als besonders geeignet erwies sich die Gruppenarbeit mit Themen, die von den Teilnehmenden ausgewählt und in ihrem eigenen Tempo bearbeitet und diskutiert wurden.
Motivation zur Teilnahme: Während in der Regel das Interesse am Thema als Motiv zur Teilnahme benannt wird, war die Mehrzahl der Teilnehmenden – so unsere Einschätzung – aus Neugierde am bis dato noch unbekannten Format der Bildungsreise mit nach Strasbourg gefahren. Laut eigener Aussage wollte eine Teilnehmerin die Möglichkeit nach Frankreich zu reisen wahrnehmen, eine andere (die „Incluencerin“) die Barrierefreiheit in Strasbourg und im Europäischen Parlament überprüfen und darüber in Social Media berichten.
Wahrnehmung der politischen Selbstwirksamkeit: Da das Format der Bildungsreise für viele neu und daher ungewohnt war, wurde zu Beginn von mehreren Teilnehmenden geäußert, dass sie zu den Inhalten „nichts zu sagen hätten“ oder „nichts sagen könnten“. Im Dialog mit den Teilnehmenden kristallisierte sich heraus, dass ein Großteil von ihnen negative Erfahrungen im öffentlichen Raum gemacht hatte. Solche Erfahrungen können unter Umständen bei den Betroffenen das Gefühl hervorrufen, dass ihre politische Meinung und Teilhabe keine Relevanz habe oder Wirkung zeige (vgl. Czollek et al. 2019, S. 211 ff.). So berichteten einige Teilnehmende davon, dass sie Diskriminierung(-en) aufgrund ihrer Behinderung erfahren hatten, die – so unser Eindruck – ihre politische Selbstwirksamkeitswahrnehmung beeinflussten (z. B. als Gefühl der Ohnmacht oder des Scheiterns). Sie erzählten unter anderem von struktureller Diskriminierung, beispielsweise auf institutioneller Ebene (z. B. keine Barrierefreiheit am örtlichen Wahllokal) oder auf sozialer Ebene (z. B. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit). Aus den genannten Gründen war es wichtig, eine positive Lernatmosphäre zu schaffen (z. B. Anerkennung, Wertschätzung) und für eine klare Struktur zu sorgen (z. B. Gesprächsregeln). So wurden auch die Teilnehmenden im Verlauf der Seminareinheiten immer selbstbewusster in ihren Äußerungen zu politischen Themen (z. B. EU-Politikfelder, EU-Institutionen). In diesem Kontext unterstreicht die Aussage „So hat noch nie jemand mit mir darüber gesprochen“ eines Teilnehmers die Überraschung, dass seine Standpunkte anerkannt und wertgeschätzt werden, in besonderem Maße.
Barrierefreiheit: Die vieldiskutierte Barrierefreiheit wurde in unterschiedlichen Kontexten sichtbar – nicht nur in Bezug auf die Mobilität, sondern auch auf die inhaltlichen und persönlichen Rahmenbedingungen der Exkursionen. So erscheint es sinnvoll, dass Führungen in politischen Institutionen von Personen realisiert werden, welche die Bedarfe der Zielgruppe aus eigener Erfahrung kennen oder gut einschätzen können. So können potenziell (über-)fordernde Situationen, wie etwa Zeitdruck, und daraus resultierende Erfahrungen, wie etwa Ohnmacht oder Scheitern (z. B. in Bezug auf das Verständnis der Sachverhalte), vermieden werden. Dafür ist es wichtig, den Teilnehmenden Zeit zu lassen, um sich im eigenen Tempo mit den Themen befassen, dazu Fragen stellen und Bedürfnisse artikulieren zu können. So wurde vorab gezielt eine Abgeordnete des Europäischen Parlaments mit Beeinträchtigung angefragt, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung engagiert.
Betreuungs- oder Pflegebedarf: Bei den Teilnehmenden bestehende Betreuungs- oder Pflegebedarfe müssen unbedingt einkalkuliert werden, um das Bildungsteam nicht zu überfordern. Beispielsweise war eine Teilnehmerin auf persönliche Assistenz angewiesen, andere brauchten situative Betreuung, wie etwa bei der Medikation, aber auch bei der Auswahl der Kleidung bei den Exkursionen oder beim Packen der Koffer. In bestimmten Fällen musste diese Unterstützung auch vom Bildungsteam geleistet werden, das dafür einerseits nicht ausgebildet ist und andererseits nicht rund um die Uhr ansprechbar und einsatzbereit sein kann. Es zeigte sich nämlich, dass die Teilnehmenden tendenziell eher im Einzelkontakt außerhalb der Seminareinheiten (z. B. Gespräche in der Freizeit) als in der Gruppe ihre Bedürfnisse formulierten, sodass das Bildungsteam einen Raum für Gespräche unabhängig vom politischen Bildungsangebot schaffen musste.

Fazit
Resümierend waren bei der Realisierung der Bildungsreise unterschiedliche Herausforderungen vom Bildungsteam zu bewältigen. Dabei zeigte sich, dass Grundlagen der non-formalen politischen Bildung zwar auf die politische Bildung von Menschen mit Behinderung anwendbar sind, aber auch neue Anforderungen sichtbar werden können, welches das Bildungsteam mangels Erfahrung in der Planung und Durchführung inklusiver Bildungsangebote (über-)fordern. So war im Bildungsteam neben der jahrzehntelangen Expertise in der politischen Bildung auch die Expertise im sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Bereich wichtig, um den Teilnehmenden in bestimmten Fällen gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund bedarf es aus Sicht des Bildungsteams einer Beschäftigung mit den Schnittstellen von politischer Bildung und Sozialer Arbeit, um in pädagogischen Kontexten wie diesen kompetent agieren zu können. Gefragt sind hierbei auch Fördermittelgeber: Es wäre zu schade, wenn derlei Projekte weiterhin nur über Sondermittel durchgeführt werden könnten, weil diverse Bestimmungen von Regelförderungen (z. B. Anzahl der Arbeitsstunden pro Tag, Einhaltung des Programmes) die Arbeit mit solchen Zielgruppen erschweren oder unmöglich machen.
Zu den Autor*innen

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