Wie gleich oder ungleich ist Deutschland?
Was bedeutet soziale Gerechtigkeit?
Ist soziale Ungleichheit ungerecht? Über soziale Ungleichheit ist nicht zu sprechen, ohne sich zugleich darüber zu verständigen, was soziale Gerechtigkeit bedeutet. Die Forderung nach allumfassender Gleichheit stünde im Widerspruch zu den Zusagen einer liberalen Gesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen schützt. In Wahrnehmung ihrer Grundrechte treffen Bürgerinnen und Bürger* vielfältige Entscheidungen, die zu sozialer Differenzierung und damit Ungleichheit führen.
Was aber bedeutet soziale Gerechtigkeit, wenn Gerechtigkeit kein Synonym für Gleichheit ist? Der in Oxford lehrende Philosoph David Miller (2008, S. 67 ff.) hat in seiner „Theorie sozialer Gerechtigkeit“ in Anknüpfung an eine lange philosophische Denktradition herausgearbeitet, dass Menschen je nach den Beziehungen, die sie unterhalten, ganz verschiedene Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zugrunde legen.
In solidarischen Gemeinschaften, so Miller, ist das dominante Gerechtigkeitsprinzip die Verteilung gemäß dem Bedarf: Knappe Ressourcen sollen so verteilt werden, dass der Bedarf ihrer Mitglieder möglichst gedeckt werden kann. Maßgeblich dabei sind Bedürfnisse, die nach den Normen der Gemeinschaft erforderlich sind, ein angemessenes menschliches Leben zu führen. Dies gilt für die Sphäre der Familie ebenso wie für die existenzsichernden Leistungen ausgebauter Sozialstaaten.
Über soziale Ungleichheit ist nicht zu sprechen, ohne sich zugleich darüber zu verständigen, was soziale Gerechtigkeit bedeutet.
Geht es um ökonomische Beziehungen und die Mitgliedschaft in Zweckverbänden, ist dagegen die Verteilung gemäß Verdienst das einschlägige Gerechtigkeitsprinzip. Bürgerinnen und Bürger bringen ihre Fähigkeiten und Talente auf unterschiedliche Art ein und können legitimerweise ein Entgelt erwarten, das ihrem Anteil entspricht. Das Verdienstprinzip ist das dominierende Gerechtigkeitsprinzip wirtschaftlicher Kooperation; es findet, wie sich in empirischen Studien zu Gerechtigkeitsvorstellungen zeigt, breite Anerkennung. Zugleich wird es immer wieder vehement angegriffen, es sei nichts weiter als ein Prinzip zur Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit. Alles andere als eindeutig sind zudem die Verteilungsregeln, die aus dem Verdienst- oder Leistungsprinzip folgen und die auszuhandeln sind; denn in einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind Arbeitsprozesse und die Leistungen vieler eng verwoben. Auch gibt es in einer Reihe von Spitzenpositionen Gehälter, die etwa aufgrund von Gefälligkeit in Aufsichtsgremien oder fehlender Kontrolle von nachvollziehbaren Leistungsüberlegungen völlig entkoppelt sind. Aber trotz massiver Kritik kann man das Verdienstprinzip nicht ad acta legen, wenn man nicht zurück will in eine ständische Ordnung, in der der gesellschaftliche Status durch Geburt festgelegt wird (vgl. Verheyen 2018, insb. Kap. 1 und 7). Eine Entlohnung nach dem Verdienstprinzip trägt dazu bei, die Leistungsanreize zu schaffen, ohne die Kooperationsgewinne in arbeitsteiligen Gesellschaften nicht möglich sind. Die breite Anerkennung des Verdienstprinzips bedeutet gleichzeitig, dass eine ungleiche Verteilung von Einkommen grundsätzlich akzeptiert wird (vgl. Miller 2008, Kap. 4).
In unseren Beziehungen als Staatsbürgerinnen und -bürger, so Miller weiter, ist Gleichheit das primäre Gerechtigkeitsprinzip. In freiheitlichen Demokratien sind die Bürgerinnen und Bürger Träger gleicher Rechte und Pflichten; sie haben die gleichen Grundrechte, das gleiche Wahlrecht, das gleiche Recht der freien Rede, den gleichen Schutz durch die Gerichte. Sie haben ein Recht darauf, dass die Rahmenordnung der Wirtschaft diskriminierungsfrei gestaltet ist. Alles andere wäre ein Rückfall in eine vordemokratische Privilegienordnung.
In freiheitlichen Demokratien sind die Bürgerinnen und Bürger Träger gleicher Rechte und Pflichten; sie haben die gleichen Grundrechte, das gleiche Wahlrecht, das gleiche Recht der freien Rede, den gleichen Schutz durch die Gerichte.
Im Rechtsstaat dominiert das Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit. In der Marktordnung, die der Rechtsstaat durch Gesetz und Regulierung ermöglicht und gestaltet, gilt das Verdienstprinzip. Der Sozialstaat, der dem Rechtsstaat zur Seite tritt, soll nach dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit allen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Würde garantieren, sofern dies nicht bereits durch ihre Markteinkommen und die daraus abgeleiteten Versorgungsansprüche gesichert ist. Im Dreiklang dieser Prinzipien müssen wir aushandeln, was soziale Gerechtigkeit konkret bedeutet und wie sie uns zum Handeln verpflichtet.
Wie gleich oder ungleich ist Deutschland?
Vergleichen wir die heutige Situation mit früheren historischen Epochen, so zeigt sich „eine historische Tendenz zu mehr sozialer, ökonomischer und politischer Gleichheit. (…) So ungerecht sie scheinen mag, die Welt der beginnenden 2020er Jahre ist egalitärer als die von 1950 oder 1900, die ihrerseits in zahleichen Hinsichten egalitärer war als die Welt von 1850 oder 1780.“ (Piketty 2022, S. 13) In diesem Prozess sind auch die Rechte von Nichteigentümern gestärkt worden, insbesondere durch die Durchsetzung des allgemeinen, von Besitz unabhängigen Wahlrechts, durch Schutzrechte für Beschäftigte und Mieterinnen und Mieter (vgl. Piketty 2022, S. 46 ff.).
Es gibt vielfältige Dimensionen sozialer Ungleichheit. Zuallererst denken wir an die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, somit der wirtschaftlichen Ressourcen, über die Menschen verfügen.
Es gibt vielfältige Dimensionen sozialer Ungleichheit. Zuallererst denken wir an die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, somit der wirtschaftlichen Ressourcen, über die Menschen verfügen. Die folgende Erörterung konzentriert sich auf Deutschland, da es in einem kurzen Beitrag nicht möglich ist, der Entwicklung in unterschiedlichen Ländern gerecht zu werden.
Datengrundlage zur Erfassung der Einkommensverteilung sind Haushaltsbefragungen wie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Das SOEP ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung, die derzeit etwa 30.000 Personen in 15.000 Haushalten erfasst. Sie ist eine der wichtigsten Datenquellen zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Da das SOEP seit 1984 erhoben wird, ermöglicht es, die gesamte Entwicklung seit der Wiedervereinigung zu erfassen. Erfasst wird das Einkommen auf Haushaltsebene; um die Vergleichbarkeit von Haushalten unterschiedlicher Größe werden sogenannte Äquivalenzeinkommen berechnet. Das Haushaltseinkommen wird dabei nicht durch die Zahl der Haushaltsmitglieder geteilt, sondern durch sogenannte Äquivalenzziffern. Bei einem Paar mit zwei Kindern, eines unter, eines über 14 Jahre, sind diese 1,0 für den ersten und 0,5 für den zweiten Erwachsenen, 0,5 für das ältere und 0,3 für das jüngere Kind. Das verfügbare Einkommen dieses Haushaltes wird somit durch 2,3 geteilt, um so das „Äquivalenzeinkommen“ der Haushaltsmitglieder zu ermitteln. Dieses Verfahren soll berücksichtigen, dass Haushalte durch das gemeinsame Wirtschaften Synergien haben. Allerdings kann man die Höhe der Äquivalenzziffern hinterfragen (vgl. ausführlich hierzu: Cremer 2017, S. 19 ff.)
Erfasst werden zwei Einkommensarten: Ihr Markteinkommen erzielen Menschen aus Erwerbstätigkeit, Mieteinnahmen und sonstigen Kapitalerträgen. Ihr verfügbares Einkommen ergibt sich, nachdem sie Steuern und Sozialabgaben bezahlt und Renten und Sozialtransfers wie Kindergeld, Leistungen der Arbeitslosenversicherung, Hartz IV/Bürgergeld oder die Grundsicherung im Alter erhalten haben.

Wie ungleich sind diese Einkommen verteilt? Das wichtigste Maß für Ungleichheit ist der Gini-Koeffizient. Er nimmt einen Wert zwischen null und eins an. Wenn alle das Gleiche haben, beträgt der Gini-Koeffizient null, wenn einer über alles verfügt und alle anderen völlig leer ausgehen, liegt er bei eins. Der Gini-Koeffizient der Markteinkommen betrug im Jahr 2018 0,48; bei den verfügbaren Haushaltseinkommen liegt er dagegen bei 0,29 (vgl. Grabka 2021, S. 312). Diese Differenz zeigt: Die verfügbaren Einkommen sind weniger ungleich verteilt als die Markteinkommen der Haushalte. Dies ist Folge der staatlichen Umverteilung. Zur Differenz tragen etwa zur Hälfte die Renten bei, die kein Geschenk des Staates sind, sondern die sich die Rentnerinnen und Rentner erarbeitet haben. Zur anderen Hälfte sind es die progressive Einkommenssteuer und die Sozialtransfers (vgl. Kleimann/Peichl et al. 2020).
In Deutschland ist die Sichtweise verbreitet, es werde von „unten nach oben“ umverteilt, die Umverteilung liefe somit in die falsche Richtung. Ein solcher Vorwurf kann bezüglich einzelner staatlicher Maßnahmen begründet sein. Denn viele staatliche Maßnahmen haben Auswirkungen auf die Einkommensverteilung – in die eine oder andere Richtung. So hat beispielsweise der Tankrabatt, der befristet in Reaktion auf stark steigende Benzinpreise infolge des Ukrainekrieges eingeführt wurde, besser situierte Haushalte stärker entlastet als Haushalte mit geringen Einkommen. Aber das hebt nicht den Gesamteffekt des Steuer- und Transfersystems auf, das in Richtung stärkerer Gleichheit der Einkommen umverteilt.
Betrachten wir die Entwicklung seit der Wiedervereinigung, so zeigt sich, dass bis zur Mitte der Nullerjahre die Ungleichheit sowohl bei den Markteinkommen als auch bei den verfügbaren Einkommen deutlich zugenommen hat. Der Gini-Koeffizient der Markteinkommen stieg von 0,41 1991 auf 0,49 2005; der Gini-Koeffizient der verfügbaren Einkommen stieg im gleichen Zeitraum von 0,25 auf 0,29 – somit nicht ganz so stark wie der Wert für die Markteinkommen. Das Steuer- und Transfersystem hat den Anstieg der Ungleichheit gemildert (vgl. Abbildung 1).

Die Bedingungen, die diese wachsende Ungleichheit verursacht haben, werden heute leicht vergessen: Die Öffnung der Märkte in Osteuropa brachte eine neue Konkurrenz zu Niedriglohnländern in unmittelbarer Nachbarschaft. Nach der Wiedervereinigung brach die Industrieproduktion in den neuen Bundesländern dramatisch ein. Die Regierung von Helmut Kohl (1982–1998) hat substanzielle Teile der Kosten der Wiedervereinigung durch höhere Sozialabgaben finanziert und damit sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zusätzlich verteuert. Die Arbeitslosigkeit stieg und stieg. In dieser Situation machten Gewerkschaften und Betriebsräte erhebliche Zugeständnisse, um Arbeitsplätze in den Unternehmen zu sichern: Lohnverhandlungen fanden vermehrt auf Unternehmens- und nicht mehr auf Branchenebene statt, Tarifverträge erlaubten unternehmensinterne Ausnahmeregeln. Die Dezentralisierung der Lohnfindung verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen deutlich. Die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt ist durch eine lange Phase der Lohnzurückhaltung eingeleitet worden; erst sie hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die institutionellen Reformen, die ab 2003 mit der Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung eingeleitet wurden, wirken konnten. Dieser Erfolg wurde jedoch durch sinkende Löhne am unteren Ende der Lohnskala erkauft (vgl. Fitzenberger et al. 2014).
Erst in der äußerst positiven wirtschaftlichen Entwicklung der 2010er Jahre sind auch die verfügbaren realen Einkommen der untersten Dezile der Einkommensverteilung wieder gestiegen. Hierzu hat auch die Einführung des Mindestlohns beigetragen. Mit der günstigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sind die realen Stundenlöhne seit 2013 stark gestiegen, nachdem sie bis 2005, also in der Phase stetig steigender Massenarbeitslosigkeit, mit leichten Schwankungen stagnierten und dann bis 2013 um etwa 4 % zurückgingen. Auf den ganzen Zeitraum von 1995 bis 2020 bezogen, sind die realen Bruttomonatslöhne aller Beschäftigten um mehr als 10 % gestiegen, die der Vollzeitbeschäftigten sogar um 22 %. Der Niedriglohnsektor ist immerhin rückläufig, er war bis 2007 gewachsen und lange Zeit in seiner Größe unverändert. Auch ist in den 2010er Jahren die Ungleichheit der Bruttostundenlöhne gesunken. Verglichen wird der Stundenlohn von Beschäftigten, die mehr verdienen als 90 % aller Beschäftigten, mit jenen, deren Stundenlohn nur den von 10 % aller Beschäftigten übersteigt. Dieses Verhältnis sank vom Vierfachen 2011 auf 3,4 im Jahr 2020 (vgl. Grabka 2022).
Offen ist, wie stark sich die hohe Inflation auf die Verteilung der Realeinkommen auswirken wird, hier liegen noch keine Ergebnisse der Haushaltsbefragungen vor. Bezieher niedriger Einkommen sind von steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen überproportional betroffen; dies könnte die positive Entwicklung der 2010er Jahre wieder umkehren. Die unterersten Dezile sind von krisenbedingten Realeinkommensverlusten existenziell weit stärker betroffen als die Mitte und der obere Rand der Gesellschaft.
Schrumpft die Mitte?
In der politischen Debatte in Deutschland herrscht an düsteren Befunden zum Zustand der Mittelschicht kein Mangel; sie bröckele, schrumpfe oder zerfalle. Es gibt keine allgemeingültige Definition, wer zur Mitte zu rechnen sei. In einer statusbezogenen Abgrenzung kann man Personen zur Mitte rechnen, die ein mittleres Einkommen mit einem mindestens mittleren Berufsabschluss und einer beruflichen Position jenseits gering qualifizierter und körperlicher Arbeit verbinden. So abgegrenzt, ist die Mitte seit der Wiedervereinigung recht stabil (vgl. Burkhardt et al. 2013, S. 47 ff.).
Meist jedoch aber wird die Mitte nach einem schlichten, eindimensionalen Konzept vermessen. Zur Mittelschicht gezählt werden jene Haushalte, die ein mittleres Einkommen haben, beispielsweise zwischen 75 und 200 % des Medianeinkommens. Der Median ist jene Einkommenshöhe, die die Bevölkerung in zwei Hälften teilt: eine mit geringeren, die andere mit höheren Einkommen. Man kann die Mittelschicht auch anders abgrenzen, daher gibt es unterschiedliche Angaben zu ihrer Größe.
In der politischen Debatte in Deutschland herrscht an düsteren Befunden zum Zustand der Mittelschicht kein Mangel.
Die Größe der so vermessenen Mitte ist unmittelbar abhängig von der Verteilung der Einkommen. Wird diese ungleicher, so nehmen der untere und der obere Rand (etwas) zu, die Mitte nimmt ab. Genau das ist in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre und Anfang der Nullerjahre geschehen.
Mit der zunehmenden Einkommensungleichheit veränderte sich auch das Gefüge der Einkommensschichten, wie eine jüngere Auswertung der OECD zeigt. Der Anteil der Mitte (75–200 % des Medianeinkommens) sank von 70 % 1995 auf 65 % 2005, die so vermessene Mitte ist also in der Tat kleiner geworden. Oberhalb des Medians hat sich so gut wie nichts verändert, die „mittlere“ und die „obere Mitte“ sind so groß wie damals. Kleiner geworden ist die „untere Mitte“ – das sind jene, die über 75 bis 100 % des Medianeinkommens verfügen. Gewachsen ist dagegen der Anteil der Niedrigeinkommensbeziehenden und der Einkommensarmen. Seit Mitte der 2000er Jahre jedoch ist die Größe der Mitte und die Einkommensschichtung mit geringen Schwankungen stabil (vgl. OECD 2021, S. 37; vgl. Abbildung 2). Der verbreitete Eindruck, die Mitte sei in einem anhaltenden Prozess der Erosion, ist also falsch.

Dennoch hält sich das Bild einer ständig schrumpfenden Mitte hartnäckig. Wahrnehmungen zur wirtschaftlichen und sozialen Realität können in starkem Widerspruch zu den hier referierten Verteilungsdaten stehen. Die Einkommensverteilung in Deutschland wird, wie eine repräsentative Umfrage zeigt, als weit ungleicher wahrgenommen, als sie ist. Mehr als die Hälfte der Befragten glaubt, in einer Gesellschaft zu leben, in der die meisten Menschen unten stehen. Sie vermuten somit eine pyramidenförmige Verteilung, während die Einkommensverteilung etablierter Sozialstaaten eher die Form einer Zwiebel hat, mit den meisten Menschen in der Einkommensmitte (vgl. Niehues 2019). Eine solche Fehlwahrnehmung hat politische Folgen. Wer sich selbst der Mitte zurechnet und gleichzeitig die Mehrheit unten wähnt, der kann der Angst vor dem Abstieg kaum entkommen. Jede gesellschaftliche Veränderung, die Folgen für das Schichtgefüge haben kann, kann die Befürchtung auslösen, die vermeintliche Minderheitsposition, die man in der Mitte einnimmt, zu verlieren und in die vermeintlich große Gruppe derer abzurutschen, die unten stehen.
Die Einkommensverteilung in Deutschland wird, wie eine repräsentative Umfrage zeigt, als weit ungleicher wahrgenommen, als sie ist. Mehr als die Hälfte der Befragten glaubt, in einer Gesellschaft zu leben, in der die meisten Menschen unten stehen.
Hohe Ungleichheit bei den Vermögen
Die Vermögensverteilung ist weit ungleicher als die Einkommensverteilung. Bei den verfügbaren Einkommen in Deutschland liegt der Gini-Koeffizient bei 0,29, beim Nettovermögen dagegen bei etwa 0,8 (vgl. Schröder et al. 2020, S. 515). Lange wussten wir wenig über die Vermögensverteilung in Deutschland, da sich hochvermögende Menschen selten in eine Haushaltsbefragung verirren. Seit kurzem gibt es im SOEP eine Sondererhebung zu Hochvermögenden, die mit der Reichenliste des Manager Magazin kombiniert wird, um die bisher bestehende Datenlücke zu schließen. Demnach beträgt der Anteil des reichsten Prozents am Vermögen in Deutschland 35 %. Nicht jeder, der sich so weit oben befindet, ist superreich im Sinne landläufiger Vorstellungen. Das durchschnittliche Vermögen der Vermögensmillionäre, soweit sie überhaupt mit Haushaltsbefragungen erreicht werden, beträgt etwa 3 Mio. Euro; weit weg also von der Quant- oder der Aldi-Familie. Zudem gibt es etwa 700 Familien und Einzelpersonen mit einem Vermögen von mindestens 250 Mio. Euro (bezogen auf 2017; vgl. Schröder et al. 2020).
Wie beurteilt man diese Verteilung? Die Notwendigkeit, Privatvermögen zur Vorsorge aufzubauen, ist in Ländern mit einem gut ausgebauten Sozialstaat geringer als beispielsweise in den USA, die stärker auf eigene Vorsorge setzen. In den gängigen Vermögenserhebungen werden das Immobilien- und das Betriebsvermögen, sonstige Wertgegenstände und das Finanzvermögen der Haushalte abzüglich ihrer Verbindlichkeiten erfasst, nicht aber die erworbenen Renten- und Pensionsansprüche. Auch wenn diese nicht frei verfügbar sind, also nicht verkauft, beliehen oder vererbt werden können, sind sie doch eigentumsähnlich, ohne allerdings Eigentum im klassischen Sinne zu sein.
Zu berücksichtigen ist auch, dass in einer Marktökonomie, die auf der privaten Verfügungsgewalt von Produktionsmitteln basiert, die Konzentration dieser Produktionsmittel zur Ungleichheit der Vermögensverteilung ganz wesentlich beiträgt. Je reicher die Vermögenden, desto stärker überwiegen Betriebsvermögen sowie Immobilien, die vermietet werden (vgl. Schöder et al. 2020). In Deutschland besteht die Besonderheit, dass das Eigentum vieler Unternehmen in Familienbesitz ist. Die Vorteile, die damit verbunden sind, räumt auch ein bekannter Kritiker der Vermögensungleichheit wie Marcel Fratzscher ein. Deutschland habe eine hohe Anzahl von hidden champions, kleine und mittlere Unternehmen, die bei spezifischen Produkten und Dienstleistungen Weltmarktführer sind. Fratzscher lobt, dass diese „im Allgemeinen auch eine sehr viel langfristigere Perspektive ein(nehmen) als börsenorientierte Unternehmen, bei denen die kurzfristigen Interessen der Anteilseigner einen großen Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen haben.“ Eine Kehrseite dieser Wirtschaftsstruktur sei „jedoch die aus ihr resultierende Vermögensungleichheit. (…) In fast allen anderen Industrieländern sind die Unternehmen zu einem viel größeren Teil an der Börse und sind so Eigentum von sehr viel mehr Bürgern – mit allen genannten Vor- und Nachteilen.“ (Fratzscher 2016, S. 150 f.) Würde das Betriebsvermögen der mittelständischen Betriebe über Aktien breiter gestreut, ergäbe dies Verschiebungen im obersten Zehntel oder allenfalls dem obersten Fünftel der Vermögensbesitzer. Für die unteren 80 % ist eher entscheidend, wie sich eine drastische Veränderung der Wirtschaftsstruktur auf ihre Arbeitsplätze und die Präsenz der Unternehmen in ihrer Region auswirken würde.
Die sehr ungleiche Verteilung der Vermögen führt zu regelmäßigen Debatten über steuerliche Eingriffe, um sie zu korrigieren. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt die jährlichen Steuermehreinnahmen aus einer Reform der Erbschaftsteuer, einer Einkommensteuer auf Veräußerungsgewinne von Immobilien und einer Vermögensteuer für Hochvermögende insgesamt auf bis zu 22,5 Milliarden Euro (vgl. Bach 2021). Dies wären substanzielle Mehreinnahmen. Bedenkt man allerdings, dass die Summe aller Sozialausgaben 2021 ca. 1.100 Mrd. Euro betrug oder die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen im gleichen Jahr bei über 800 Mrd. Euro lagen, so zeigt sich, dass der Zugewinn an staatlicher Handlungsfähigkeit eher graduell ist.
Mittels Vermögens- und Erbschaftssteuern kann die Vermögensverteilung in gewissen Grenzen korrigiert werden. Illusionär jedoch sind Erwartungen, durch eine konfiskatorische Vermögensbesteuerung der Superreichen Produktivvermögen wie Produktionsanlagen oder gewerbliche Immobilien in den Konsum für Niedrigeinkommensbezieher zu lenken oder damit staatliche Dienstleistungen zu finanzieren. Die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft beruht auf einem großen Produktivvermögen. Auch nach seiner Konfiszierung mittels sehr hoher und dauerhaft erhobener Vermögensteuern müsste es als Produktivvermögen erhalten werden, sollen die Grundlagen des Wohlstands nicht erodieren. Wechseln würden die Eigentumsverhältnisse. Nach und nach würde das Produktivvermögen aus Privatbesitz auf öffentliche Kollektive übergehen. Ob man die Machtballung bei den Verantwortlichen für staatliche Vermögensfonds in Kauf nehmen will und ob man glaubt, eine solche Ökonomie sei in gleicher Weise innovativ wie die heutige mit privatem Besitz an Produktionsmitteln und starkem Wettbewerb, mag jeder selbst beurteilen.
Ungleiche Verwirklichungschancen
Sprechen wir über soziale Ungleichheit, so stehen üblicherweise Einkommen und Vermögen und damit wirtschaftliche Ressourcen im Blick. Es gibt vielfältige andere Dimensionen, in denen sich soziale Ungleichheit zeigt. So sind Menschen in ihrer staatsbürgerlichen Teilhabe ungleich, wenn sie trotz gleicher Rechte von der politischen Teilhabe ausgeschlossen sind und sich durch Wahlabstinenz auch selbst ausschließen, etwa, weil das Bildungssystem sie nicht erreichen und fördern konnte oder die Themen, die sie bewegen, in der politischen Kommunikation nicht vorkommen. Trotz eines rechtlich garantierten Zugangs zu einem ausgebauten Gesundheitssystem gibt es Menschen, die von den Angeboten zur Prävention und Vorsorge nicht erreicht werden; es gibt einen irritierend engen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Lebenserwartung. Gesundheitliche Gleichheit ist somit ein nicht erreichtes Ideal. Wie die internationalen PISA-Erhebungen zeigen, kann jeder fünfte Schüler am Ende der Schulpflichtzeit nicht richtig lesen und ist auf eine Ausbildung ungenügend vorbereitet. Dabei gibt es einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, in Deutschland ist dieser Zusammenhäng stärker als in einer Reihe anderer Industrieländer. Zudem bleibt der an sich gut ausgebaute Sozialstaat in Deutschland weit hinter seinen Möglichkeiten, Notlagen zu vermeiden. Viele Präventionsprogramme wie etwa Angebote für werdende Eltern und junge Familien erreichen weit leichter die Mittelschicht und nicht diejenigen, die am dringendsten auf sie angewiesen wären. Gegenüber Menschen aus prekären Milieus verhindern aufgesplitterte Zuständigkeiten im Sozialsystem die Hilfe aus einer Hand (vgl. Cremer 2021).
Sprechen wir über soziale Ungleichheit, so stehen üblicherweise Einkommen und Vermögen und damit wirtschaftliche Ressourcen im Blick. Es gibt vielfältige andere Dimensionen, in denen sich soziale Ungleichheit zeigt.
Der indisch-amerikanische Philosoph Amartya Sen (2010) hat mit dem von ihm maßgeblich entwickelten Befähigungs- oder Verwirklichungschancenansatz die Debatte zu sozialer Gerechtigkeit stark beeinflusst. So wichtig ökonomische Ressourcen sind, sie sind, wie Sen betont, ein Mittel, sie sind nicht das Ziel menschlicher Existenz. Nicht die Verfügungsgewalt über Ressourcen macht unsere Wohlfahrt aus, sondern die Handlungsoptionen, die sie ermöglichen. Die Fähigkeiten oder Verwirklichungschancen, über die Menschen verfügen, bestimmen, welche Lebensentwürfe sie realisieren können und wie umfangreich ihre diesbezüglichen Wahlmöglichkeiten sind. Der Verwirklichungschancenansatz stellt die Potenziale jedes Menschen in den Mittelpunkt; jede und jeder ist zur Entfaltung und Verwirklichung ihrer und seiner Fähigkeiten auf ein förderliches soziales Umfeld angewiesen. Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen ihre Potenziale entfalten können. Gelingende Befähigung ist somit ein Feld gesellschaftlicher Verantwortung, sie obliegt nicht allein der Selbstsorge. Das Bildungssystem, der Sozialstaat und vielfältige andere Politikfelder sind daran zu messen, ob sie das Mögliche leisten, damit Menschen ihre Potenziale entfalten können, ob sie darauf ausgerichtet sind, Menschen so zu stärken, dass sie Akteure ihres eigenen Lebens werden können. Damit rücken Dimensionen sozialer Ungleichheit in den Blick, die sich stellen, bevor der umverteilende Sozialstaat zum Zuge kommt.
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mail@georg-cremer.de
Foto: Roman Herzog Institut, München