Außerschulische Bildung 3/2020

Tutzinger Schülerforum: EuropaPolitik erleben!

Eine Politiksimulation zur EU-Klimapolitik

Die Akademie für Politische Bildung in Tutzing arbeitet seit vielen Jahren mit den Methoden Planspiel bzw. Politiksimulation. Die neuste Politiksimulation wurde vor dem Hintergrund der umfassenden politischen Agenda entwickelt, die der Europäischen Union eine weltweit führende Position in Sachen Klimaschutz geben soll. Sie befasst sich konkret mit dem Instrument des Emissionszertifikatehandels. Die Politiksimulation wird im Rahmen des Schülerforums „EuropaPolitik erleben!“ regelmäßig von der Akademie angeboten. von Leoni Billina und Till Dechêne

Der Klimawandel stellt nicht nur nationale Politiken auf die Probe, auch die Europäische Union muss diesem entschieden begegnen. Dieser großen Aufgabe möchte sich die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen mit besonderer Aufmerksamkeit widmen. Der medienwirksam angekündigte „Green Deal“ soll Europas „man on the moon moment“ werden, wie die Kommissionschefin es ausdrückte. Eine umfassende politische Agenda, um die Europäische Union weltweit führend in Sachen Klimaschutz zu machen. Um die Bedeutung dieses zukunftsweisenden Vorhabens zu unterstreichen, wurde eigens dafür ein neuer Kommissionsposten geschaffen, welchen der niederländische Sozialdemokrat und geschäftsführende Vizepräsident Frans Timmermans bekleidet.

Auf diesen großen politischen Schritt stützt sich die neuste Politiksimulation der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Planspiele bzw. Politiksimulationen erfreuen sich in der politischen Bildung großer Beliebtheit. Dabei schlüpfen die Teilnehmer*innen in die Rollen von Politiker*innen, Staatsbeamt*innen oder weiterer Akteure. Simuliert werden kann grundsätzlich jede Thematik sowie jeder politische Prozess. Jedoch sollte sich das Geschehen auf klare Rahmenbedingungen stützen können und muss erfahrungsgemäß auch ein wenig vereinfacht werden. Insbesondere für Schüler*innen lassen sich komplexe politische Zusammenhänge und Prozesse auf lebendige Art und Weise veranschaulichen. Die Lernbereitschaft steigt durch die interaktive Beteiligung enorm und das gesammelte Wissen prägt sich durch den Eventcharakter gut ein.

Die Akademie für Politische Bildung bietet mit den Tutzinger Schülerforen schon seit längerem ein besonderes Format für Schüler*innen. Es richtet sich dabei an Schulklassen verschiedener Schultypen. Sowohl mit Blick auf die unterschiedlichen Klassenstufen als auch hinsichtlich der Veranstaltungsdauer ist das Angebot offen gestaltet. Erfahrene Gastdozent*innen der Akademie leiten die Foren, welche entweder in der Akademie oder vor Ort in den Schulen stattfinden. Derzeit hat die Akademie für Politische Bildung das Schülerforum Nahost‐Region und besagtes Schülerforum „EuropaPolitik erleben!“ zur EU-Klimapolitik regelmäßig im Programm.

Politiksimulationen unter erschwerten Bedingungen

Ziel für das Jahr 2020 war es, die Politiksimulation an vier Terminen in der Akademie sowie an sechs Terminen als Außenveranstaltungen durchzuführen. Leider kam diesem Vorhaben die Corona-Pandemie in die Quere und so konnte bisher nur ein Termin realisiert werden. Eine Durchführung unter Hygiene-Schutzmaßnahmen gestaltet sich schwierig, da zum einen die Räumlichkeiten bei Einhaltung von Abstandsgeboten entsprechend groß sein müssten, zum anderen da Politiksimulationen davon leben, Absprachen auch abseits der Gremien zu treffen und sprichwörtlich „die Köpfe zusammenzustecken“. Daher mussten sich die Verantwortlichen leider für die Absage der Veranstaltungen während der Pandemie entscheiden. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben …

Das Tutzinger Schülerforum Foto: Akademie für Politische Bildung

Die Politiksimulation, welche sowohl in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing als auch als Außenveranstaltung an den Schulen selbst durchgeführt werden kann, ist für bis zu 60 Teilnehmer*innen ausgelegt. Auf einem bestimmten Verteilungsschlüssel basierend wird die Anzahl der Teilnehmer*innen proportional auf die entsprechenden Gremien aufgeteilt. Über die Dauer von drei Tagen schlüpfen Schüler*innen in ihre zugeteilten Rollen von Politiker*innen verschiedener EU-Institutionen. Dies kann die Europäische Kommission, das Europäische Parlament oder der Rat der Europäischen Union sein. Einige der Teilnehmenden begleiten das Geschehen dabei auch als kritische Medien, welche nicht nur über den Verhandlungsverlauf berichten, sondern auch Interviews führen und der Politik auf einer Pressekonferenz auf den Zahn fühlen.

Im Vorfeld wird den betreuenden Lehrkräften bereits das notwendige Informationsmaterial zugesandt, welches in die Simulation, die Hintergründe sowie die Rollenprofile einführt. Ein umfangreiches „Starterset“ bietet so die Möglichkeit, die teilnehmenden Schüler*innen bereits vor der Anreise auf ihre Aufgaben und Rollen vorzubereiten. Die Rollenvergabe erfolgt durch die Lehrkräfte im Vorfeld, denn für gewisse Rollen, besonders die Führungspositionen ist es von Vorteil, wenn diese von Schüler*innen eingenommen werden, welche die entsprechende Durchsetzungsstärke bzw. das Moderationstalent besitzen. Denn die komplette Simulation wird von den Teilnehmer*innen selbst geleitet, wobei die Spielleitung nur möglichst selten eingreifen sollte. Dazu werden in den Gremien entsprechende Präsidentschaften und Vizepräsidentschaften bestimmt, welche in Parteizugehörigkeit bzw. nationaler Zugehörigkeit auch denen der derzeit amtierenden EU-Gremien entsprechen. Somit sollen den Jugendlichen nicht nur Prozesse, sondern auch bestehende Zuständigkeiten, wie etwa die derzeitige deutsche Ratspräsidentschaft, einprägsam nähergebracht werden.

Die Simulation folgt dem Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, welche der Großteil der Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union durchlaufen müssen. Dabei stellt die Kommission ihre Gesetzesinitiative vor und in zwei bis drei Lesungen nehmen jeweils Parlament sowie Rat dazu Stellung und einigen sich auf Änderungsanträge. Auch wenn der Prozess für die Simulation an manchen Stellen etwas vereinfacht ist, so wird den Schüler*innen dennoch ein sehr realistisches Bild der tatsächlichen Gesetzgebungsprozesse der Europäischen Union vermittelt.

Inhaltliche Fokussierung

Konkret geht es in dieser Politiksimulation um das Instrument des Emissionszertifikatehandels. Dieses Instrument stellt einen wesentlichen Mechanismus in der europäischen Klimapolitik dar. Das Ausstoßen von Treibhausgasen erfordert den Besitz entsprechender Zertifikate, welche von emittierenden Unternehmen erworben werden müssen. Ihre Menge wird schrittweise reduziert und so auch die Menge der entstehenden CO2-Emmissionen. Doch welche Wirtschaftssektoren sollen in diesen Handel mit einbezogen werden? Soll es einen Mindestpreis pro Tonne CO2 geben? Und wenn ja, wie hoch soll dieser sein? Um welchen Faktor sollen die Zertifikate pro Jahr reduziert werden? Wofür sollen die Erlöse, welche durch den Verkauf der Zertifikate an die Unternehmen erwirtschaftet werden, verwendet werden? Und wäre ein EU-weiter CO2-Zoll das richtige Instrument, um emissionsintensive Unternehmen von der Abwanderung ins EU-Ausland abzuhalten?

Um die eigene Position in diesen Fragen zu bestimmen, haben die Schüler*innen in ihren jeweiligen Rollenprofilen sowohl eine kurze Beschreibung der eigenen Person, als auch eine übersichtliche Tabelle zu den jeweiligen Fragen vorliegen. In dieser werden sowohl Idealpositionen definiert als auch Positionen, welche nicht überschritten werden sollten, festgelegt. In diesem Rahmen vollzieht sich das Verhandlungsspektrum des jeweiligen Teilnehmenden. So besteht einerseits genug Freiheit, um Kompromisse eingehen zu können, andererseits bietet die Tabelle auch eine Orientierungshilfe, welche Entscheidungen gegebenenfalls den eigenen Parteiinteressen oder nationalen Interessen entgegenlaufen würden.

Die Akademie für Politische Bildung bietet mit den Tutzinger Schülerforen schon seit längerem ein besonderes Format für Schüler*innen. Foto: Akademie für Politische Bildung

Nachdem die Kommission die ambitionierten Ziele ihrer Gesetzesinitiative vorgestellt hat, ist es zunächst Aufgabe des Parlaments, als Vertretung der europäischen Bürger*innen, dazu eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Durch die teilweise stark divergierenden Interessen der im Parlament vertretenden Fraktionen sind hitzige Debatten und Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Der schließlich doch errungene Kompromiss wird wiederum dem Rat der Europäischen Union vorgestellt. In diesem sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union vertreten und somit gehen auch dort die Interessen teilweise stark auseinander. Die Schüler*innen bekommen dabei einen lebhaften Eindruck, wie politische Entscheidungen zustande kommen und wie Eigeninteressen mit denen anderer kollidieren können. Die Medien begleiten diesen spannenden Prozess und bilden ihn durch Artikel auf einer eigens eingerichteten Website sowie eigenen Twitterkanälen ab. Nach der ersten Lesung im Parlament sowie im Rat geht es in die jeweils zweite Lesung und eine Einigung könnte in greifbare Nähe rücken. Es kann jedoch vorkommen, dass keine Einigung erzielt wird und ein Vermittlungsausschuss einberufen werden muss. Ob sich alle Institutionen letztlich einigen können und eine Neuregelung des europäischen Zertifikatehandels zustande kommt, obliegt dem Verhandlungsgeschick und der Kompromissbereitschaft der teilnehmenden Schüler*innen.

Europäische Verhandlungen in Tutzing

Wie bereits erwähnt, wurde durch den Ausbruch des Corona-Virus die Durchführung der Politiksimulation stark eingeschränkt. Ein Termin Anfang März 2020 konnte jedoch noch stattfinden. 28 Schüler*innen des Carl-Orff-Gymnasiums in Unterschleißheim nahmen an der Simulation teil und waren hierfür drei Tage zu Gast in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Geleitet wurde die Politiksimulation von Till Dechêne, Gastdozent an der Akademie für Politische Bildung. Unterstützt wurde er dabei von dem Politikwissenschaftler Nicki K. Weber.

Zunächst oblag es der Kommission, in diesem Fall durch zwei Schüler*innen repräsentiert, ihren – natürlicherweise recht ambitionierten – Ansatz vorzustellen. Daraufhin wurde dieser im Parlament von den unterschiedlichen Fraktionen diskutiert und Änderungsvorschläge ausgearbeitet. Nach der Gewöhnung an die jeweils eigenen Rollenprofile nahm die Simulation schnell Fahrt auf und die Debatten gewannen an Intensität. Auch die Sitzungsleitung oblag den Schüler*innen selbst, diese Aufgabe lösten sie mit Bravour und zunehmender Souveränität. Sitzungspausen waren geprägt von informellen Verhandlungen und auf Twitter waren bissige Kommentare der Medienvertreter*innen zu lesen. Im Anschluss wurden die erarbeiteten Änderungsvorschläge dem Ministerrat präsentiert und es galt für diesen, die Vorschläge den eigenen Interessen anzupassen. Dieser Vorgang wiederholte sich ein weiteres Mal in der zweiten Lesung im jeweiligen Gremium. Die Kommission stand dabei stets beratend wie auch kritisierend zur Seite. Die transpersonale Perspektivenübernahme verfestigte sich so weit, dass selbst abends beim gemeinsamen Ausklang noch intensiv weiter diskutiert wurde. Eine so intensive Lehr- und Lernerfahrung bieten nur wenige Formate. Inhaltlich näherte man sich über die beiden Lesungen nach und nach an, aufgrund einer letzten Meinungsverschiedenheit war schließlich doch ein Vermittlungsausschuss nötig. Dieser war jedoch ein voller Erfolg und das Gesetz zur Neuregelung des Emissionshandels konnte unterzeichnet werden.

Die transpersonale Perspektivenübernahme bietet eine einzigartig nahe Erfahrung von politischen Prozessen und Rollenverständnissen. Foto: Akademie für Politische Bildung

Fazit

Das Feedback der Schüler*innen sowie der betreuenden Lehrkräfte war sehr positiv und es wurden auch konstruktive Verbesserungsvorschläge vorgebracht. Denn erfahrungsgemäß sind die ersten Durchführungen von Planspielen bzw. Politiksimulationen auch immer ein wenig Proben auf Ausgewogenheit der Spieldynamik. Das Nachsteuern und die Anpassung einiger Faktoren auf Basis von Erfahrungswerten gehört somit zur Spielentwicklung mit dazu.

Grundsätzlich bieten sich Planspiele und Politiksimulationen für jede Altersgruppe und Schulform an. Jedoch sollte der Grad der thematischen Komplexität sowie die durch das Rollenprofil gestellten Anforderungen an die Schüler*innen sowohl dem Alter, als auch dem inhaltlichen Vorwissen angepasst werden. So bieten sich beispielsweise kommunalpolitische Themen, welche den Lebenswelten der Schüler*innen besonders nahestehen, eher zur Arbeit mit jüngeren und weniger vorgebildeten Schüler*innen an. Die eventuelle Nachbereitung des vermittelten Wissens obliegt den betreuenden Lehrkräften. Es empfiehlt sich sicherlich, die gemachten Erfahrungen auch im weiteren Bildungsverlauf aufzugreifen, jedoch sollte dabei das sich vom sonstigen Schulalltag abhebende „Erlebnis Planspiel“ als solches nicht allzu sehr dekonstruiert werden.

Auch in Zukunft werden Planspiele und Politiksimulationen in der politischen Bildung der Akademie ihren festen Platz haben. Die transpersonale Perspektivenübernahme bietet eine einzigartig nahe Erfahrung von politischen Prozessen und Rollenverständnissen. Auch ein nicht zu unterschätzender Unterhaltungswert treibt Schüler*innen zur ambitionierten Mitarbeit an. Und eine angenehmere Art der Wissensvermittlung kann sich eine Dozentin oder ein Dozent kaum wünschen.

Für weitere Informationen wenden Sie sich gerne jederzeit an die Akademie für Politische Bildung in Tutzing (www.apb-tutzing.de).

Zur Autorin/zum Autor

Leoni Billina, Dipl.sc.pol.Univ. Aktuell Masterstudium der Soziologie. Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
l.billina@campus.lmu.de
Till Dechêne, Dipl.sc.pol.Univ. Gastdozent an der Akademie für Politische Bildung Tutzing sowie der Europäischen Akademie Bayern. Analyst bei Sicyon Risk Management.
t.dechene@apb-tutzing.de