Außerschulische Bildung 3/2021

Veränderungen von Räumen der politischen Bildung in Zeiten des Corona-Virus

Zwischen Utopie und Realität

Das Corona-Virus hat die Gesellschaft modifiziert. Dies gilt auch für die Räume, in denen politische Bildung für Kinder und Jugendliche erfahrbar ist. Diese Veränderungen werden hier beschrieben. Dafür beginnt der Text zunächst mit einer Vision, wie die Räume der politischen Bildung unter der Berücksichtigung der Bedürfnisse der jungen Menschen gestaltet sein müssten, fokussiert auf die Perspektive, dass die Pandemie auch ein Lernanlass sein kann.  von Stine Marg

Beginnen wir mit einer Utopie, wie der Spätsommer 2021 aussehen könnte: Wir haben uns mit dem Virus SARS-CoV-2 arrangiert. Dafür haben die jeweiligen Nationen unterschiedliche Strategien zu verschiedenen Zeitpunkten der pandemischen Krise erprobt, verworfen und weiterentwickelt. Deutschland hat einen probaten Mittelweg gefunden, um die vulnerablen Bevölkerungsgruppen zu schützen und die damit verbundenen Einschränkungen der individuellen Freiheiten insbesondere für die weniger gefährdeten Personen so gering wie möglich zu halten. Die vorhandenen Ressourcen wurden mit Augenmaß verteilt, um die Folgen der zahlreichen individuellen, wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen gleichmäßig abzufangen. Auch eine jener Gruppen, die in der ersten kritischen Phase der Pandemie fast vergessen wurde, die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Bedürfnisse, finden mittlerweile hinreichende Beachtung im politischen Umgang mit der Pandemie und ihren Folgen. Die Zeit der Spekulationen und indirekten Beschuldigungen der Kinder als „Pandemietreiber“ ist endgültig vorüber. Es liegen umfangreiche Studien zur Übertragbarkeit, Krankheitsverläufen und Infektionsrisiken für alle Altersgruppen, differenziert nach Hygiene- und Abstandsplänen vor, um systematisch verschiedene Risiken einschätzen und Kindern die Angst nehmen zu können, sich selbst, aber auch ihre Eltern und Großeltern unbemerkt mit einer todbringenden Krankheit zu infizieren. Es wird das Möglichste getan, um die durch die zahlreichen Einrichtungs- und Schulschließungen entstandenen Defizite und Verlusterfahrungen zu kompensieren und der erwarteten erneuten Ausbreitung des Virus und seiner inzwischen unzähligen Varianten im anstehenden Herbst und Winter vorzubeugen. Mehr Personal in den Kindertageseinrichtungen und in allen Schultypen ermöglicht kleine Betreuungs- und Lerngruppen, die nicht nur das Risiko der unkontrollierten Virusausbreitung minimieren, sondern gleichzeitig zu einer nachhaltigen Entwicklung der Bildungssituation beitragen. Ein kreatives Raumkonzept, sowie umfangreiche Test- und Impfstrategien für alle Altersgruppen garantieren im Rahmen des Möglichen wenn nicht eine Rückkehr zur Normalität, so doch wenigstens die so wichtige Verlässlichkeit für die junge Generation. Mehr und mehr wird die Krise überwunden und kehren alltägliche Routinen, Perspektiven zur langfristigen Lebensplanung und verlorengegangene Sicherheitsgefühle zurück. Selbst die vielfältigen außerschulischen Räume sind aufgrund nachhaltiger Förderstrategien der öffentlichen Hand wieder in der Breite ihrer Angebote präsent und können die jungen Menschen in ihren Selbstbildungs- und Entwicklungsprozessen unterstützen.

Darüber hinaus wird die Corona-Krise nicht mehr ausschließlich als Bedrohung wahrgenommen, sondern als produktiver Lernanlass in den schulischen und außerschulischen Räumen der politischen Bildung genutzt. Mit Rückgriff auf den 16. Kinder- und Jugendbericht und in Anlehnung an Martina Löw (2017) werden Räume der politischen Bildung als soziale Räume konzeptualisiert. Diese werden als durch die Akteure gestalt- und veränderbare Container gedacht (vgl. BMFSFJ 2020, S. 130). Dieses analytische Konstrukt ermöglicht es, den Aneignungsprozess der politischen Selbstbildung von jungen Menschen in den Vordergrund zu stellen. Räume der politischen Bildung lassen sich – entlang des 16. Kinder- und Jugendberichts – zum Beispiel in Familien, Kindertageseinrichtungen, Schulen, Universitäten, beruflichen Bildungsstätten, in der Kinder- und Jugendarbeit, in Freiwilligendiensten oder in der Zivilgesellschaft finden. Die weltweite Ausbreitung des Corona-Virus hat zwar die Struktur der jeweiligen Räume unmittelbar verändert, hier gilt nun Abstand statt Nähe und – dort wo es möglich ist – der Anspruch der Transformation ins Digitale, dennoch war es dem Willen aller Akteure der jeweiligen Räume und der Bereitstellung der notwendigen Rahmenbedingungen und Ressourcen zu verdanken, dass auch produktiv und vor allem zukunftszugewandt mit der Krise umgegangen werden konnte.

Umfragen zeigen, dass sich junge Menschen mit ihren Bedürfnissen in der Pandemie vergessen fühlen. Foto: AdB

Durch eine systematische und facettenreiche Thematisierung des Virus in den Räumen der politischen Bildung werden die jungen Menschen nun befähigt, autonome Perspektiven zu dieser krisenhaften gesellschaftlichen Situation zu entwickeln. Darauf aufbauend können sie ihre Umwelt und Lebensbedingungen gestalten, statt lediglich verwaltet zu werden. Motiviert durch die Erfahrung der gesellschaftlichen Vulnerabilität, entstehen aus kleinen Gesten der alltagspraktischen Solidarität (z. B. Erledigung des Einkaufs für die sich in Quarantäne befindlichen Nachbarn) neue Formen des solidarischen Miteinanders. Innerhalb der Räume der politischen Bildung werden beispielsweise die Einschränkung bestimmter Freiheits- beziehungsweise Grundrechte unter den Bedingungen der Pandemie thematisiert oder anlassbezogen am Beispiel des Infektionsschutzgesetzes darüber gesprochen, welche politischen Akteure auf welchen Grundlagen politische Entscheidungen treffen können und sollten. Auch wird die Corona-Krise genutzt, um den Zusammenhang von Demokratie und Kapitalismus kritisch zu diskutieren, warum es der Weltgesellschaft nicht gelingt, die vorhandenen Impfstoffe gleichmäßig zu verteilen oder wieso beispielsweise die Beschäftigten in der Fleischindustrie, die Erntehelfer*innen oder die Bewohner*innen großer Wohnblocks in sozial schwachen Bezirken aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen überproportional an dem Virus erkranken. Der Zusammenhang zwischen der Ausbreitung von SARS-CoV-2 und der Globalisierung oder die Frage, welche Berufsgruppen mit welchen Qualifizierungsstufen die Vorteile des Homeoffice nutzen können, sind weitere anlassbezogene Themen, die durch die politische Bildung aufgegriffen werden. Gleiches gilt für Othering-Prozesse und Diskriminierungen, die sich anhand der öffentlichen Debatte über die sogenannte Indische Variante oder die „China-Seuche“ in den Räumen der politischen Bildung thematisieren lassen oder für die Bedingungen von Wissenschaftskritik und die Anziehungskraft von Verschwörungserzählungen.

Die Vision gilt noch nicht

Doch leider ist die bis hierhin geschilderte Perspektive in weiten Teilen nur eine wünschenswerte Utopie. Obwohl wir uns offenbar langfristig mit dem Virus und seinen Mutationen arrangieren müssen, sind etliche Rahmenbedingungen, die es der jungen Generation ermöglichen, sich trotz der Corona-Krise selbstbestimmt und frei zu entfalten, noch immer nicht gegeben. Auch die Räume der politischen Bildung konnten sich seit März 2020 nicht, wie oben beschrieben, entfalten, sondern waren zeitweise durch die Schließung sämtlicher Einrichtungen im schulischen und außerschulischen Bereich für junge Menschen unzugänglich. Zu dem Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen ist bereits absehbar, dass sich ähnliche Fehler wie zu Beginn der Pandemie im Umgang mit den jungen Menschen wiederholen werden. Auch wenn die Lehrer*innen überwiegend geimpft oder zahlreiche Klassenräume mit Luftfiltern ausgestattet sind, hat man dennoch den Eindruck, dass die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen im Gegensatz zu den anderen Bevölkerungsgruppen keine Priorität haben. So stellen beispielsweise Bund und Länder rund zwei Milliarden Euro für die Bearbeitung der Lernrückstände seit Ausbruch der Pandemie zur Verfügung, während hingegen die Niederlande mit rund 17,28 Millionen Einwohner*innen ein Paket mit über acht Milliarden Euro schnüren (vgl. Thümler 2021). Eine flächendeckende Digitalisierung oder gezielte Förderung für besonders benachteiligte Schüler*innen wird so auch in den kommenden Phasen des Homeschooling kaum umsetzbar sein.

Obwohl wir uns offenbar langfristig mit dem Virus und seinen Mutationen arrangieren müssen, sind etliche Rahmenbedingungen, die es der jungen Generation ermöglichen, sich trotz der Corona-Krise selbstbestimmt und frei zu entfalten, noch immer nicht gegeben.

Während das Ende des ersten Lockdowns durch die Hoffnung geprägt war, dass sich ein solches Drama wie im Frühjahr 2020 für die Kinder und Jugendlichen – damit sind die Schließungen von Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, auch außerschulischen Freizeit- und Bildungsangeboten sowie die Absperrung des öffentlichen Raums gemeint – nicht wiederholen wird, erwarten wir mittlerweile resigniert die bereits durch die Expert*innen angekündigte vierte Welle. Zusammengenommen hat der sogenannte Wellenbrecher-Lockdown seit Mitte November 2020, der am 16. Dezember 2020 in einen harten Lockdown umgewandelt und bis Pfingsten 2021 mehr oder weniger flächendeckend aufrechterhalten wurde, längere und damit z. T. auch härtere Einschnitte für die Kinder und Jugendlichen gebracht als die ersten Schließungen im Frühjahr 2020. Dieser zehrende Prozess war nach dem ersten Lockdown noch unvorstellbar und hat massive Auswirkungen auf Räume der politischen Bildung. Der Zustand dieser Räume, der Kindertageseinrichtungen, Schulen, Universitäten und außerschulischen Einrichtungen, der sich folglich stark verändert hat und noch immer von der eingangs beschriebenen Utopie weit entfernt ist, soll im Folgenden exemplarisch und rudimentär umrissen werden (vgl. BMFSFJ 2020).

Was zählt politische Bildung im pandemischen Ausnahmezustand?

Durch die monatelange Schließung der Lern- und Betreuungseinrichtungen, sowie sämtlicher Freizeit-, Kultur- und Bildungsangebote waren die Kinder und Jugendlichen beinahe ausschließlich auf die Möglichkeiten und Bedingungen des unmittelbaren familiären Umfeldes angewiesen. Während die einen hier eine privilegierte Situation erlebten, gefördert wurden und über die entsprechenden Ressourcen verfügen, mussten andere in desaströsen und bedrohlichen Verhältnissen ausharren. Zur Konzentration auf das Familienleben gab es für Kinder im Lockdown nur wenig Alternativen, denn selbst Spielplätze, Parkanlagen, Strände und Rodelhügel blieben über Wochen gesperrt. Und gerade jene Kinder, die noch nicht über Lese- und Schreibfähigkeit verfügen, können ohne die unterstützende Transmitterfunktion der Erziehungsberechtigten im Lockdown kaum mit Gleichaltrigen in Kontakt bleiben. Sie können nicht die leibliche und räumliche Distanz zu dem Gegenüber überbrücken. Für sie bleibt es beim social distancing, der sozialen Distanzierung, die die Kinder nicht in das vielgepriesene physical distancing (vgl. exemplarisch Stumpf 2020), d. h. lokale Separation bei gleichzeitiger Kontakt- und Anteilnahme, umwandeln können. Auch wenn mit jedem neuen (drohenden) Lockdown die als notwendig deklarierten Schließungen weniger überraschend kommen mögen, bedeuten die „Notbetriebe“ der Kindertageseinrichtungen für viele Kinder Leerlauf, Langeweile, Frustration und vor allem kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Gerade weil diese Maßnahmen der Kontaktvermeidung bereits so lange andauern, wächst mittlerweile eine durch soziale Distanz geprägte Generation heran. Kleinkinder, die nicht am Babyschwimmen teilnehmen konnten, die nicht in Krabbelgruppen waren, die kaum mit fremden Personen zu interagieren lernen, weil diese ihre Emotionen stets hinter eine Maske verbergen (müssen). Die Jüngsten können gar nicht (mehr) wissen, wie das gesellschaftliche Zusammenleben aussieht, wenn es nicht durch die Ausbreitung eines Virus dominiert wird. Es mangelt so an einem Erwerb sozialer Kompetenzen, die u. a. Voraussetzungen für sinnliche Erfahrungen im Rahmen der politischen Bildung sein können.

Zum Familienleben gab es für Kinder im Lockdown nur wenig Alternativen, denn selbst Spielplätze blieben über Wochen gesperrt. Foto: Katie Gerrard/unsplash

Vielerorts hat sich zwar die Idee der sogenannten Notbetreuung für Kinder bis zwölf Jahre, deren Eltern systemrelevante Berufe ausüben – abhängig von den jeweils geltenden regionalen Bestimmungen und Kapazitäten – eingespielt und viele Träger bemühen sich unter großem Aufwand, auch Kinder mit besonderem Förderbedarf in die Notbetreuung aufzunehmen. Dennoch: Selbst in den Phasen zwischen dem letzten Lockdown und den erwarteten nächsten Kontaktbeschränkungen entfallen in den Kinderbetreuungseinrichtungen pandemiebedingt das Jahr strukturierende Feste, gemeinsame Veranstaltungen und Geburtstagsfeiern. Gruppenübergreifende Betreuungskonzepte oder Raumnutzungspläne, externe Besucher (z. B. Handpuppentheater), Ausflüge zur Feuerwehr, der Polizei und in den Zoo fallen für die Kinder auch im zweiten Jahr der Pandemie aus oder werden unter den Bedingungen der Krise nur rudimentär simuliert. Erwartungssicherheit und Vertrauensaufbau können sich unter diesen Bedingungen nicht oder kaum entwickeln. Jedes geplante und lang ersehnte Fest, jede vorgenommene Verabredung im weiteren Freundeskreis, jeder Familienausflug oder gar -urlaub steht und fällt mit den aktuell geltenden Infektionsschutzbestimmungen.

All diese Maßnahmen führen für die Kinder insgesamt zu reduzierten Begegnungen, weniger Interaktionen, damit einher gehen entgangene Erfahrungen und Vertrauensverluste in andere Menschen und staatliche Institutionen. Weniger soziale Kontakte führen auch dazu, dass Menschen aller Altersgruppen weniger das Gefühl haben, ihr Leben zu kontrollieren, in der Folge sinkt auch die Lebenszufriedenheit (vgl. Schröder 2020, S. 201). Durch die verminderten gesellschaftlichen Interaktionen entstehen deutlich weniger Gelegenheiten zur Herausbildung verschiedener Kompetenzen, die für das Agieren in heterogenen und größeren Gruppen zwingend erforderlich sind. Dabei sind all diese Begegnungen und so erlernten Praktiken Voraussetzungen für gelungene politische Bildungs- und Selbstbildungsprozesse. Im Rahmen der politischen Bildungsangebote, die für jene Kinder in späteren Entwicklungsphasen bereitgehalten werden, muss zumindest reflektiert werden, wie diese Defizite kompensiert und aufgeholt werden können. Der beschriebene Erfahrungsmangel und das erwartete Misstrauen werden überdies die politische Sozialisation der Kinder zurückwerfen oder zumindest erschweren.

All diese Maßnahmen führen für die Kinder insgesamt zu reduzierten Begegnungen, weniger Interaktionen, damit einher gehen entgangene Erfahrungen und Vertrauensverluste in andere Menschen und staatliche Institutionen.

Auch die Schulkinder waren von den Schließungen betroffen. Zwar war nach dem ersten Lockdown im Jahr 2020 der politische Wille groß, den schulischen Regelbetrieb so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Dennoch: Quarantäne für einzelne Klassen oder Klassenstufen, Schulschließungen aufgrund lokaler Ausbrüche des Virus, von der Pandemielage abhängige Stufenpläne, partielles und vollständiges Homeschooling sowie die Aussetzung der Präsenzpflicht führten dazu, dass Schule kein verlässlicher Lernraum mehr für Kinder und Jugendliche ist. Hinzu kommt die mangelnde technische Ausstattung der Schulen und einiger Schüler*innen, die insbesondere im ländlichen Raum desaströsen Internetanbindungen sowie die unzureichend aufgebaute Medienkompetenz vieler Lehrenden. Zwar wurde die Zeit nach dem ersten Lockdown im Jahr 2020 zumindest soweit genutzt, dass an den meisten Einrichtungen einige Leihgeräte für die Lernenden und Lehrenden zur Verfügung standen, doch es fehlt auch weiterhin an Netzwerkanbindungen, schuleigenen Cloudlösungen oder spezifischer (datenschutzrechtlich unbedenklicher) Software. Unter diesen Bedingungen sind für Viele Stress und negative Emotionen ein ständiger Begleiter im Raum Schule. Dass dies kein förderliches Lernklima bedeutet und sich die Kinder unter diesen Rahmenbedingungen nur wenig neue Lerninhalte aneignen können, zeigen bereits erste Studien (vgl. Hammerstein u. a. 2021).

Gleichzeitig kam es sowohl in den Phasen des Lockdowns als auch während des Regelbetriebs zu einer Fokussierung und Reduzierung auf die Kernfächer. Politische Bildung als Unterrichtsfach, Querschnittsthema und erst recht als Bestandteil der Schulkultur spielte und spielt unter den Bedingungen der Pandemie kaum noch eine Rolle – obwohl es, wie oben angedeutet, zahlreiche thematische Anknüpfungspunkte gäbe. Überdies sind das Homeschooling und der Unterricht in geteilten Lerngruppen deutlich hierarchischer organisiert, die Mitsprache der Schüler*innen hinsichtlich des Lernstoffes ist massiv gesunken. Umso länger die pandemiebedingten Einschränkungen andauern werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass erreichte Ziele insbesondere im Rahmen der demokratischen Schulkultur verloren gehen oder mit viel Kraft und Energie wieder aufgeholt werden müssen. Aktuell wird in der öffentlichen Debatte die Schule ausschließlich unter dem Aspekt der Wissensvermittlung diskutiert. Der für die jungen Menschen als Lernort etablierte und vertraute Raum verschenkt so deutlich sein Potenzial für die Vermittlung von Krisenbewältigungs- und Verarbeitungsstrategien.

Durch die verminderten gesellschaftlichen Interaktionen entstehen deutlich weniger Gelegenheiten zur Herausbildung verschiedener Kompetenzen, die für das Agieren in heterogenen und größeren Gruppen zwingend erforderlich sind.

Den Problemen der technischen Unterausstattung und des Medienkompetenzmangels der Lehrenden konnten die Universitäten und Fachhochschulen häufig besser als die Schulen begegnen. Die Umstellung auf die Online-Lehre und auf digitale Prüfungsformate gelang hier überwiegend gut, die Corona-Pandemie war geradezu ein Treiber für die Digitalisierung der Hochschulen. Dennoch: Gerade die diskursiven Settings von Seminarsitzungen, die vor allem für politische Bildungsprozesse relevant sein können, lassen sich trotz großem Engagement der Lehrenden und Lernenden sowie vorhandener Hard- und Software nicht eins zu eins in digitale Formate übertragen (vgl. Winde u. a. 2020). Es fehlen die Ausstrahlung, Stimmung und Atmosphäre durch die unmittelbare Anwesenheit der anderen, die oft erst die eigenen Reflexionen in Gang setzen (vgl. Kammandel 2021). Es fehlt, wie Ulrike Draesner (2020, S. 47) schreibt, die „reale Gegenwart“, der Zufall, das Unplanbare, die „körperliche Anwesenheit der anderen, die mir das Gefühl vermittelt, in der Welt gehalten zu sein.“ Auch wenn die Grafikkarten heiß laufen, bleiben die Bildschirme kalt und die jungen Menschen unberührt. Insgesamt scheint es, als erlebe auch die Hochschullehre ein ähnliches Schicksal, wie der Unterricht an den Schulen: Es geht vorwiegend um Input und Wissensvermittlung, statt um autonome Selbstbildungsprozesse oder Lernen durch Erfahrungen. Selbst für das vierte Semester unter den Bedingungen der Pandemie planen viele Hochschulen einen Großteil der Veranstaltungen digital. So könnten ggf. Studierende, die nicht ein einziges Mal den Campus ihrer Universität betreten, mit Kommiliton*innen in der Mensa gegessen oder in der Universitätsbibliothek ein Buch gesucht haben, viersemestrige Studiengänge abschließen. Selbst Auslandssemester wurden digital aus dem WG-Zimmer heraus absolviert, der Hochschulsport findet via Videoformat statt, Feiern und Geselligkeiten, interkulturelle Begegnungen, zwischenmenschliche Kontakte – all das fehlt auch den Studierenden. Systematische Beobachtungen zeigen (vgl. exemplarisch Traus u. a. 2020), dass der psychosoziale Druck steigt, Beratungsstellen stark nachgefragt sind und sich die Studienzeiten offenbar verlängern (werden). Gleichzeitig erhöht sich für viele Studierende auch die individuelle wirtschaftliche Belastung, sie mussten und müssen auf Einkommensverluste in der Pandemie reagieren und sind mitunter gezwungen, wieder in die elterlichen Wohnverhältnisse zurückzukehren. Auch die oft einen Übergang in den Beruf sichernden Praktika entfallen seit März 2020 flächendeckend. Aus sozialpsychologischen Untersuchungen und der Analyse historischer Verhältnisse wissen wir, dass Zukunftsängste und finanzielle Nöte Vorurteile und feindselige Einstellungen gegenüber Fremden befördern können. Auch das sind weitere Herausforderungen für die Räume der politischen Bildung (vgl. exemplarisch Monnet 2020).

Während des Lockdowns wurde die Trennung zwischen Räumen des Privaten und des Lernens und Arbeitens auch für junge Menschen durchlässig. Die Sphären der Schule, der Universität und des Berufslebens auf der einen und der Begegnungen mit Bekannten, der Austausch mit Freunden, die Stunden mit der Familie auf der anderen Seite gehen beinahe nahtlos ineinander über. Zeiten, in denen junge Menschen dem Imperativ des Lernens unterworfen sind oder ihrem Arbeitgeber zur Verfügung stehen müssen, dehnen sich massiv über den Tag verteilt aus und drängen Rückzugsmöglichkeiten zurück. Da alles stets digital und insbesondere in der Hochschullehre auch asynchron möglich ist, schrumpfen die Gelegenheiten zur Erholung massiv. In diesem Zusammenhang wird oft Resilienz gefordert. Die jungen Menschen sollen Widerstandskraft gegen Stress erlernen und sich der durch die Krise erschütterten Umwelt anpassen (vgl. Graefe 2019). Die Krise wird so zum Instrument der Disziplinierung. Gestaltung, Autonomie oder gar Kritik und Verweigerung treten so erst gar nicht in den Deutungshorizont der Kinder und Jugendlichen beziehungsweise spielen in ihrem Handlungsrepertoire keine Rolle.

Weniger Interaktionen bedeuten entgangene Erfahrungen und Vertrauensverlust. Foto: AdB

Während die Schulen und Betreuungseinrichtungen jedoch wenigstens teilweise geöffnet bleiben konnten, wurden die Einrichtungen der außerschulischen politischen Bildung sowohl im Frühjahr 2020 als auch im darauffolgenden Lockdown 2020/2021 geschlossen. Dies bedeutet starke Einschnitte in die Trägerlandschaft. Viele Einrichtungen werden die Einnahmeverluste nicht kompensieren können, der Verlust durch Schließungen könnte die außerschulische politische Bildung nachhaltig schwächen. Auch wenn hier mittlerweile zahlreiche kreative digitale Formate entwickelt werden konnten, die jede Video-Konferenz-Session locker überbieten, kann der reale Erfahrungsmangel auch in diesem Raum nur schwerlich kompensiert werden. So sind mehr oder weniger durchgehend seit dem Frühjahr 2020 internationale und interkulturelle Begegnungen sowie sämtliche außerschulische Austauschprogramme abgesagt. Je länger der pandemische Ausnahmezustand andauert, sind diese mitunter sehr prägenden Erfahrungen, an welche die politische Bildung häufig anschließen kann, auch für Kinder und Jugendliche generationelle Verlusterfahrungen.

Auch wenn die Grafikkarten heiß laufen, bleiben die Bildschirme kalt und die jungen Menschen unberührt.

Umfragen zeigen deutlich, dass sich die jungen Menschen mit ihren Bedürfnissen in der Pandemie vergessen fühlen (vgl. Andresen u. a. 2021). Kinder und Jugendliche erfahren täglich, dass man sie ausschließlich als Personen wahrnimmt, die etwas lernen müssen und nun seit über anderthalb Jahren ein Defizit ausbilden. Persönlichkeitsentwicklung, freie Entfaltung und die Idee der Selbstbildung spielen im Rahmen der Öffnungsdiskussionen für Räume, die insbesondere Kindern und Jugendlichen vorbehalten sind, lediglich eine nachrangige Rolle. Dadurch wird den jungen Menschen offensichtlich eine spezifische Relevanz in der Gesellschaft abgesprochen, die diese sehr wohl spüren. Dies sollte nicht vergessen werden, wenn wir von den nachwachsenden Generationen zukünftig gesellschaftliches Engagement erwarten und einfordern. Der politischen Bildung wird – und auch das trägt langfristig sicher zu Überforderungen ihrer jeweiligen Räume bei – hier wiederum eine Feuerwehr-ähnliche Aufgabe zugeschrieben, die auf all diese Trends und Entwicklungen zu reagieren hat und idealerweise Lösungen parat hält.

Was folgt daraus?

All diese Impressionen zeigen, dass die Lernorte im Allgemeinen und auch die Räume der politischen Bildung im Besonderen unter Corona-Bedingungen insgesamt ungleicher und undemokratischer geworden sind. Der über viele Monate geltende Imperativ der Kontaktvermeidung oder -beschränkung führt zu massiv reduzierten gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Begegnungen. Die nun überall geltende Drei-G-Regelung (geimpft, getestet, genesen) vernachlässigt auch im weiteren Verlauf die Situation der Kinder und Jugendlichen, für die entweder noch kein Impfstoff entwickelt worden ist oder die aufgrund der Impfpriorisierung noch kein Impfangebot erhalten haben. Die unter Pandemiebedingungen unerwünschten sozialen Begegnungen, der Ausschluss zufälliger Zusammenkünfte und das sich langsam etablierende Misstrauen gegenüber fremden Personen, die die Potenzialität des Virus(über)trägers in sich bergen, werden langfristig zu einer stärkeren gesellschaftlichen Segregation führen. Kinder und Jugendliche werden aktuell dahingehend diszipliniert, sich nur mit jenen zu treffen, die gleichfalls Kontakte reduzieren, zeitweise wurde aus dem politischen Raum gar gefordert, dass auch Kinder sich nur eine Person erwählen, die sie regelmäßig treffen möchten. Man bleibt unter den Bedingungen einer Pandemie unter sich, vermeidet überraschende Begegnungen, Erkundungen fremder Räume und Milieus. Diese räumliche Segregation führt nicht nur zu weniger Kontakt mit abweichenden politischen Meinungen, zu weniger Begegnungen mit anderen Religionen und zu weniger Gelegenheiten, abweichende Verhaltensweisen aushalten oder ihnen diskursiv begegnen zu müssen, sondern wird langfristig auch zu weniger Pluralität im öffentlichen Raum führen. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass damit die Toleranz auch von Kindern und Jugendlichen sinken wird.

Kinder und Jugendliche erfahren täglich, dass man sie ausschließlich als Personen wahrnimmt, die etwas lernen müssen und nun seit über anderthalb Jahren ein Defizit ausbilden. Persönlichkeitsentwicklung, freie Entfaltung und die Idee der Selbstbildung spielen im Rahmen der Öffnungsdiskussionen für Räume, die insbesondere Kindern und Jugendlichen vorbehalten sind, lediglich eine nachrangige Rolle.

Was muss getan werden, damit die eingangs beschriebene Utopie ein wenig näher rückt? Zunächst dürfen nicht nur die Möglichkeiten der Digitalisierung für die (politische) Bildung gesehen werden, es sind gleichfalls die Grenzen des Digitalen zu erkennen und gleichzeitig die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. Es muss darüber diskutiert werden, dass die Dauer der Pandemie die „Chancen zur Verselbstständigung“ der Kinder einschränkt (von Klitzing 2020, S. 26). Dies ist bei zukünftigen politischen Entscheidungen zwingend mit zu berücksichtigen.

Überdies benötigen die jungen Menschen Gelegenheiten und Angebote in den sie umgebenden Institutionen, um ihre Ideen und Wünsche im Umgang mit der Pandemie einspeisen und ihnen das Gefühl der Selbstermächtigung zurückgeben zu können. Dafür ist politische Bildung essentiell. Insbesondere in Krisenzeiten dürfen die Räume der politischen Bildung für junge Menschen nicht schrumpfen, sondern müssen nachhaltig gestärkt werden, Kinder benötigen politische Bildung und Urteilskraft, damit ein offener und gesamtgesellschaftlicher Dialog über Lebensrisiken und -chancen für alle Generationen geführt werden kann (vgl. Wiarda 2021). Dies wäre einer demokratischen Gesellschaft angemessen.

Zur Autorin

Dr. Stine Marg studierte Politikwissenschaft und Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, wo sie auch von Franz Walter promoviert wurde. Sie ist geschäftsführende Leiterin des Instituts für Demokratieforschung an der Universität Göttingen.
stine.marg@uni-goettingen.de

Literatur

Andresen, Sabine u. a. (2021): Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe; hrsg. von der Bertelsmann Stiftung; www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Das_Leben_von_jungen_Menschen_in_der_Corona-Pandemie_2021.pdf (Zugriff: 02.07.2021)
BMFSFJ (Hrsg.) (2020): Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter; www.bmfsfj.de/blog/jump/162232/16-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-date.pdf (Zugriff: 11.02.2021)
Draesner, Ulrike (2020): Von realer Gegenwart. In: Corona und Wir. Denkanstöße für eine veränderte Welt. München: Penguin Verlag, S. 42–50
Graefe, Stefanie (2019): Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit. Bielefeld: transcript Verlag
Hammerstein, Svenja u. a. (2021): Effects of COVID-19-Related School Closures on Student Achievement – A Systematic Review. In: Psychology Archiv, Preprint; DOI 10.31234/osf.io/mcnvk (Zugriff: 30.01.2021)
Kammandel, Verena (2021): Kalt ist das Pixelbild und die Welt eine Scheibe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.03.2021
Klitzing, Kai von (2020): Kindheit in Zeiten von Corona. In: Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: transkript Verlag, S. 20–30
Löw, Martina (2017): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuchverlag (9. Auflage)
Monnet, Pierre (2020): Die Covid-19-Pandemie, gesehen durch das Prisma des schwarzen Todes 1348. In: Corona-Stories. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 36–45
Schröder, Martin (2020): Wie schlimm ist es, zu Hause zu bleiben? In: Corona und Wir. Denkanstöße für eine veränderte Welt. München: Penguin Verlag, S. 201–203
Stumpf, Theresa (2020): „Physical Distancing statt Social Distancing“. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier; www.die-debatte.org/corona-interview-brakemeier (Zugriff: 30.06.2021)
Thümler, Ekkehard (2021): Bei Hilfen für Schulen sind andere Länder uns weit voraus. In: Der Tagesspiegel vom 24.03.2021; www.tagesspiegel.de/wissen/corona-lernrueckstaende-von-kindern-bei-hilfen-fuer-schulen-sind-andere-laender-uns-weit-voraus/27037324.html (Zugriff: 02.07.2021)
Traus, Anna u. a. (2020): Stu.diCo. – Studieren digital in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie Stu.diCo. Hildesheim: Universitätsverlag
Wiarda, Jan-Martin (2021): Bitte keine Scheinlösungen; www.jmwiarda.de/2021/06/29/bitte-keine-scheinl%C3%B6sungen (Zugriff: 30.06.2021)
Winde, Mathias u. a. (2020): Hochschulen, Corona und jetzt? Wie Hochschulen vom Krisenmodus zu neuen Lehrstrategien für die digitale Welt gelangen; www.future-skills.net/download/file/fid/340 (Zugriff: 30.06.2020)