Der ländliche Raum als Lebens- und Erfahrungsraum in der modernen Gesellschaft
Ländliche Räume galten in Öffentlichkeit und Politik, aber z. T. auch in den Wissenschaften über lange Zeit als landwirtschaftlich geprägt, dünn besiedelt, strukturschwach, peripher gelegen und „abgehängt“. Demgegenüber seien die Städte, insbesondere die Metropolen und Metropolregionen, attraktiv und dynamisch in ökonomischer und demographischer Hinsicht. Daher gebe es ein Zentrum-Peripherie-Gefälle zwischen Stadt und Land, wobei letzteres durch Abwanderungen, Abbau von Arbeitsplätzen und den Rückzug des Staates immer weiter in eine Abwärtsspirale gerate. Dieses überaus schlichte Bild ist allerdings im Hinblick auf die ländlichen Räume Deutschlands falsch. Zwar wird in Politik, Medien und Öffentlichkeit, durchaus auch von politischen Vertretungen ländlicher Räume, diese stereotype Vorstellung des dauerhaft strukturschwachen und benachteiligten, daher auch föderbedürftigen ländlichen Raumes, vielfach gepflegt, aber: „Tatsächlich ist von einer ausgesprochenen Heterogenität ländlicher Räume auszugehen.“ (Mose 2018, S. 1324)
Zur Definition ländlicher Räume
Zwar ist – z. T. schon seit den 1970er-Jahren! – klar, dass hinsichtlich der Entwicklung der ländlichen Räume „eine große Spannbreite und Differenzierung zu beobachten ist“ (Reuber 2020, S. 49). Eine eindeutige Definition für die verschiedenen Typen ländlicher Räume, die rechtlich verbindlich wäre oder zumindest allen Statistiken zugrunde gelegt werden könnte, gibt es aber nicht. Mose (2018) hat die Vielfalt ländlicher Räume sehr anschaulich charakterisiert:
- ländliche Räume in der Nähe von Agglomerationsräumen und an großräumigen Verkehrsachsen,
- attraktive ländliche Räume für den Tourismus,
- ländliche Räume mit günstigen Produktionsbedingungen für die Landwirtschaft,
- gering verdichtete ländliche Räume mit wirtschaftlicher Entwicklungsdynamik,
- strukturschwache periphere ländliche Räume.
Für bundesweite vergleichende Analysen, die die umfangreiche amtliche Statistik einbeziehen, werden gegenwärtig vor allem zwei Typisierungen ländlicher Räume genutzt, die beide von Bundesforschungseinrichtungen erarbeitet wurden: Die Siedlungsstrukturellen Kreistypen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) und die Typologie des Thünen-Instituts, einer Einrichtung der Ressortforschung des Bundeslandwirtschaftsministeriums (vgl. Küpper/Milbert 2020). Während die BBSR-Typologie vor allem auf Bevölkerungsdichte und den Anteil der Bevölkerung in Groß- und Mittelstädten abhebt, liegt der Thünen-Typologie ein komplexer Index der „Ländlichkeit“ zugrunde, der zudem mit Aussagen zur sozioökonomischen Lage kombiniert wird.
Beide Typenbildungen werden mit Daten auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte umgesetzt. Das ist praktikabel und erleichtert bundesweit vergleichende Analysen, ist aber im Einzelfall auch nicht unproblematisch, da der Zuschnitt von Kreisen häufig historisch zufällig oder auch bewusst politisch intendiert ist. Das führt z. T. dazu, dass innerhalb eines großen Kreises, wie etwa im brandenburgischen Umland von Berlin, verstädterte und ländlich-periphere Strukturen zusammengefasst sind, was den für den Kreis ausgewiesenen Durchschnittswert von Indikatoren nur begrenzt aussagefähig macht. Beide Typisierungen führen zu einer unterschiedlichen Abgrenzung der ländlichen Räume der Bundesrepublik, was dann wiederum differierende Angaben über den Bevölkerungsanteil ländlicher Räume an der Gesamtbevölkerung in Deutschland ergibt. Es lässt sich also festhalten, dass man nicht „objektiv“ feststellen kann, was ländliche Räume in Deutschland sind. Vielmehr handelt es sich immer um mehr oder weniger gut begründete Konstruktionen, die spezifische Perspektiven in den Vordergrund rücken.
Vielfalt ländlicher Räume: Einige Entwicklungstrends
Eine wichtige Rahmenbedingung für die Entwicklung von Regionen ist der demographische Wandel. Eine verbreitete Annahme ist, dass ländliche Räume bislang zu dessen Verlierern gehören, d. h. vor allem durch Abwanderung schrumpfen. Das gilt sicher u. a. für viele ländliche Regionen in Ostdeutschland, auch für Teile der Nord- und Ostseeküste, Südniedersachsen, die Pfalz und Oberfranken (vgl. BMI 2020, S. 26 f.). Es gibt allerdings auch etliche ländliche Regionen mit einer günstigen demographischen Entwicklung, so etwa im westlichen Niedersachsen und in weiten Teilen Baden-Württembergs und Bayerns (vgl. BMI 2020, S. 27).

Betrachtet man die Arbeitslosenquoten als einen politisch wichtigen Indikator für die Entwicklung der Arbeitsmärkte und damit auch der Wirtschaft einer Region, so zeigt sich ebenso wie beim demographischen Wandel eine gewisse Vielfalt. Besonders hohe Arbeitslosenquoten sind in einigen ostdeutschen ländlichen Regionen zu finden, aber auch in manchen Küstenräumen, im südlichen Niedersachsen, in der Pfalz und im Saarland. Niedrige Arbeitslosenquoten weisen nahezu flächendeckend – und damit auch in den ländlichen Räumen – Bayern und Baden-Württemberg aus, aber sie finden sich etwa auch in den ländlichen Regionen des westlichen Niedersachsens, im Münsterland, in der Region Südwestfalen, in Nordhessen und in der Eifel. Gerade bei diesem Indikator zeigt sich in bemerkenswerter Weise, dass sich einige ländliche Regionen in den letzten Jahrzehnten erstaunlich positiv entwickelt haben (vgl. zu den sogenannten erfolgreichen metropolenfernen Räumen Danielzyk et al. 2019).
Während in demographischer und sozioökonomischer Hinsicht die ländlichen Räume in Deutschland also keineswegs nur strukturschwach und förderbedürftig sind, sondern eine teilräumliche Differenzierung hervorzuheben ist, teilen nahezu alle aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte infrastrukturelle Probleme. Unabhängig von der demographischen Entwicklung und der sozioökonomischen Dynamik führen ausdifferenzierte Ansprüche in der Nachfrage und Vorteile großer Infrastrukturen auf der Angebotsseite (sogenannte Skaleneffekte) dazu, dass Infrastrukturen der Daseinsvorsorge in nahezu allen ländlichen Räumen mit Tragfähigkeitsproblemen zu kämpfen haben (vgl. BMI 2020, S. 24 f.). Eine geringe Bevölkerungsdichte und eine zentrenferne Lage erschweren die Erreichbarkeit von Infrastrukturen der Daseinsvorsoge: Das gilt nicht nur in weiten Teilen Ostdeutschlands, sondern etwa auch in vielen ländlichen Räumen von Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordhessen, Rheinland-Pfalz und Bayern.
Während in demographischer und sozioökonomischer Hinsicht die ländlichen Räume in Deutschland also keineswegs nur strukturschwach und förderbedürftig sind, sondern eine teilräumliche Differenzierung hervorzuheben ist, teilen nahezu alle aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte infrastrukturelle Probleme.
Die bisher sehr knapp dargestellten Entwicklungstrends in demographischer, sozioökonomischer und infrastruktureller Hinsicht bilden aber noch nicht alle Dimensionen der Lebenswirklichkeiten in den ländlichen Räumen ab. So ist etwa auch die jeweilige ökologische Situation, für die es keinen allgemein akzeptierten, einfachen und zusammenfassenden Indikator gibt, teilräumlich sehr differenziert. Längst nicht alle ländlichen Räume sind, wie es vielleicht Vorurteile suggerieren mögen, naturnah und in einer guten Situation hinsichtlich Wasserhaushalt, Biodiversität usw. Gerade in den ländlichen Regionen mit agrarer Intensivwirtschaft (z. B. industrieller Massentierhaltung) gibt es vor allem durch Nährstoffüberschüsse ökologische Herausforderungen (vgl. z. B. Lakner 2022). In den ländlichen Räumen nahe und zwischen Metropolregionen werden durch das Wachstum von Siedlungsflächen und Verkehrstraßen naturnahe Teilräume beeinträchtigt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es eine bemerkenswerte Vielfalt der Situationen und Entwicklungstrends in den ländlichen Räumen Deutschlands gibt. Allerdings ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass aufgrund der sehr geringen Bevölkerungsdichte und der sozioökonomischen Transformation nach der „Wende“ von 1989/90 die meisten ländlichen Räume Ostdeutschlands in einer besonders schwierigen Situation sind. Zugespitzt kommt das in einem „sozioökonomischen Disparitätenbericht“ (FES 2020) zum Ausdruck, in dem die Kategorie „Ländlich geprägte Räume in der dauerhaften Strukturkrise“ für nahezu alle ländlichen Räume Ostdeutschlands – aber keinen im Westen! – zutrifft (ebd., S.6 f.).
Post-Corona: Renaissance der ländlichen Räume?
Schon sehr früh wurde in der Diskussion über die raumstrukturellen Auswirkungen der Corona-Pandemie die These vertreten, dass die seit ca. 2005 in Deutschland zu beobachtenden Reurbanisierungstendenzen an ein Ende gekommen seien und in Zukunft wieder ländliche Räume als Wohnstandorte attraktiver würden. In der Tat schwächte sich 2020 das bisherige Bevölkerungswachstum der deutschen Großstädte deutlich ab, teilweise verzeichneten sie sogar einen Bevölkerungsrückgang (vgl. Münter/Garde/Osterhage 2022, S. 2). Die mögliche Renaissance der ländlichen Räume als Wohnstandorte wird vor allem auf die rapide Digitalisierung der Arbeitswelt („remote working“ im Homeoffice) und den damit verbundenen Bedarf an größeren Wohnungsflächen, die allerdings finanzierbar sein müssen, sowie den Wunsch nach einem grünen Wohnumfeld zurückgeführt.
Allerdings ist der Zeitraum seit dem Beginn der Corona-Pandemie viel zu kurz, um schon langfristige, stabile Trends, etwa bei Wohnstandortentscheidungen, empirisch ermitteln zu können. Die aktuelle Diskussion „weist eine beachtliche Bandbreite bzw. unterschiedliche, teils gegenteilige Argumentationslinien auf“ (ebd.). Eine weit verbreitete These besagt, dass „kleinere Großstädte und suburbane Räume, weniger die ländlichen Räume, die meist weniger gut an den Öffentlichen Personennahverkehr angebunden sind“, Gewinner der Entwicklungen seien (Reicher/Tietz 2022, S. 18). Dabei ist auch zu beachten, dass Wohnstandortentscheidungen und damit auch die Bevölkerungsentwicklung einer Region von vielen Faktoren abhängen, so u. a. auch von (aktuell steigenden) Mobilitäts- und Energiekosten. Das wiederum würde eher für eine Konzentration der Wohnbevölkerung sprechen. Wenn in der Tat vermehrt wieder junge und aktive Bevölkerungsgruppen in Teilen der ländlichen Räume wohnen, d. h. in diese zurückkehren oder dort verbleiben sollten, dann könnte das auch (positive) Auswirkungen auf die Tragfähigkeit von Einzelhandel und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge sowie etwa auch für das ehrenamtliche Engagement vor Ort haben.
In jedem Fall lässt sich sagen, dass der durch die Corona-Pandemie bewirkte Digitalisierungsschub Suchräume für Wohnstandortentscheidungen erweitert und damit tendenziell zu einer Dezentralisierung beiträgt (vgl. Münter/Garde/Osterhage 2022, S. 3). Inwieweit davon dauerhaft ländliche Räume – und nicht primär die suburbanen Räume und gut angebundene Klein- und Mittelstädte – profitieren werden, muss hier offen bleiben. Zudem ist auch hier langfristig eine teilräumliche Differenzierung wahrscheinlich: So sind zumindest bislang für umzugswillige Berliner Bevölkerungsgruppen in Brandenburg verhältnismäßig nah zur Metropole günstig Immobilien im ländlichen Umfeld zu erwerben, während etwa in den Großräumen um Hamburg, Frankfurt und München viel größere Entfernungen für eine Ansiedlung im „Ländlichen“ in Kauf zu nehmen sind.
Planerisch und politisch ist in dem Zusammenhang „eine besondere Aufmerksamkeit den Stadträndern und Zwischenräumen zu widmen“, aber auch dem Zusammenspiel von städtischen und ländlichen Regionen (Reicher/Tietz 2022, S. 26).
Ländliche Lebenswelten oder Urbanisierung des Landlebens?
Über das Leben in ländlichen Räumen existiert ein großes Spektrum an Vorstellungen, die beim besten Willen nicht auf einen Nenner zu bringen sind: „Ländliche Idyllen, als Orte von Schönheit, Naturnähe und Harmonie, gehören zum festen Repertoire gesellschaftlicher Erzählungen. (…) Das Dorf symbolisiert den Ort des guten Lebens und wurde so zu einem idealisierten Haltepunkt inmitten eines (…) tiefgreifenden Transformationsprozesses. Die ‚unschönen Seiten‘ des Landlebens haben in dieser Sicht keinen Platz: Armut und Exklusion, Konflikte und Gewalt sowie harte soziale Ungleichheit passen nicht in diese Idylle.“ (Neu/Nikolich 2020, S. 170 f.) In der Tat kann die große soziale Nähe in kleinen Siedlungen bedeuten, dass sowohl hilfreiche Netzwerke als auch starke soziale Kontrolle und Normierungen entstehen können.
Über das Leben in ländlichen Räumen existiert ein großes Spektrum an Vorstellungen, die beim besten Willen nicht auf einen Nenner zu bringen sind.
Schon vor der Corona-Pandemie wurde eine „neue Ländlichkeit“ und „Landlust“ beschrieben, die nach Corona weiteren Auftrieb bekommen haben: „Landleben wird zum Gegenpol städtischer Lebensformen stilisiert, mit Entschleunigung, Achtsamkeit und Selbstreflexion als dominierenden Haltungen“ sowie einer hohen Dichte an bürgerschaftlichem Engagement (Born 2020, S. 163). Zugleich wird vielfach ein „Rückzug aus der Fläche“ beklagt, was die Zentralisierung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge nicht nur im öffentlichen Sektor, sondern etwa auch im kirchlichen Bereich und bei großen sozialen Organisationen meint. Besonders kritisch ist das im Bereich des Bildungs- und Gesundheitswesens (vgl. Miggelbrink 2020, S. 75; Born 2020, S. 164). Allerdings ist selbst dieser Befund nicht eindeutig. Die in ländlichen Räumen lebende Bevölkerung geht vielfach pragmatisch mit diesen Situationen um und hat Strategien, etwa durch familiäre und nachbarschaftliche Hilfe, entwickelt, um die Leistungen der Daseinsvorsorge erreichen zu können. Zudem ergeben sich Möglichkeiten für neue Formen zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Engagements bei der Sicherung der Daseinsvorsorge, die – das ist eine gesicherte Erkenntnis – nicht ohne staatliche und kommunale Unterstützung materieller und immaterieller Art erfolgreich sein können. Darüber hinaus bietet die Digitalisierung auch für die Daseinsvorsorge neue Chancen, etwa in Bereichen wie Telemedizin und E-Learning. Deshalb ist „die Formel vom Rückzug des Staates so pauschal nicht zutreffend (…) die Gewährleistung der Daseinsvorsorge (stellt) heute mehr Netzwerkmanagement und Mehrebenenplanung als klar definierte hoheitliche Ordnungsaufgabe dar“ (Krajewski/Steinführer 2020, S. 247).

In Zeiten umfassender Transformationen, wie sie nicht nur, aber ganz besonders auch die ländlichen Räume Ostdeutschlands erlebt haben, ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt besonders dringlich. Dieser wird z. B. an sogenannten sozialen Orten erlebt, wo die Vermittlung zwischen den engeren familiären und nachbarschaftlichen Bereichen sowie „dem größeren Ganzen, der gelebten Öffentlichkeit“ stattfindet (Neu/Nikolic 2020, S. 180). Solche sozialen Orte können Gemeindehäuser, Dorftreffs, „Kulturscheunen“, genossenschaftlich geführte Läden usw. sein. Sie sind in fast allen ländlichen Räumen vorhanden und zugleich immer wieder gefährdet, weshalb ihre Unterstützung wichtig ist.
In Zeiten umfassender Transformationen, wie sie nicht nur, aber ganz besonders auch die ländlichen Räume Ostdeutschlands erlebt haben, ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt besonders dringlich.
Abschließend zu der Thematik sei allerdings noch einmal hervorgehoben, dass ländliche Räume – und das nicht erst durch die sozialen Medien – in vielfältige Globalisierungsprozesse eingebunden sind. Lebensformen haben sich zwischen städtischen und ländlichen Räumen angenähert. Es gibt die „Dörfer in der Stadt“ und die kreativen „Remote Worker“ in Dörfern auf dem Lande (vgl. Wiegandt/Krajewski 2020, S. 23). Der Online-Handel und soziale Medien fördern diese Angleichung. Und: „Abgehängt“ kann man sich nicht nur in der ländlichen Peripherie, sondern auch in der Großwohnanlage am Rand der Metropole fühlen. Insofern sind Zweifel daran berechtigt, ob Lebensformen, Erfahrungen und Einstellungen eher räumlich bestimmt sind – oder nicht doch eher durch die jeweilige soziale Lage wesentlich determiniert werden (vgl. Miggelbrink 2020).
Handlungsansätze zur Verwirklichung Gleichwertiger Lebensverhältnisse
„Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ ist die zentrale Leitvorstellung für die Raumentwicklungspolitik in Deutschland (§1 Abs. 2 Raumordnungsgesetz). Das Konzept der Gleichwertigen Lebensverhältnisse spielt schon seit den 1970er Jahren eine zentrale Rolle in der Raumordnung und Regionalpolitik, insbesondere bei Ansätzen zur Förderung ländlicher Räume. Das Konzept hat schon eine lange Geschichte (vgl. Danielzyk/Priebs 2021). Vor allem durch die Deutsche Einheit gewann es in den 1990er Jahren erheblich an Bedeutung, um dann um die Jahrhundertwende herum als Ausdruck einer subventionsstaatlichen „Überregulierung“ in die Kritik zu geraten. Gleichwertige Lebensverhältnisse können als räumlicher Ausdruck des sozialstaatlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik gesehen werden und sind quasi als Operationalisierung räumlicher Gerechtigkeit zu verstehen (vgl. ARL 2016; Junkernheinrich/Lange 2019).
Durch die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien sind die ländlichen Räume in Europa, vor allem aber auch in Deutschland in den letzten Jahren stärker in den Fokus der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Das liegt auch daran, dass vielfach vermutet wird, dass rechtspopulistische Wahlerfolge in ländlichen Räumen mit den Erfahrungen des „Abgehängt seins“ zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund wurde 2018 eine Regierungskommission Gleichwertige Lebensverhältnisse des Bundes und der Länder (vgl. BMI 2019) eingerichtet. In dem Zusammenhang wurden diverse Förderprogramme für ländliche Räume ausgeweitet bzw. neue aufgelegt.
Die Verwirklichung Gleichwertiger Lebensverhältnisse steht allerdings vor vielfältigen Herausforderungen. So existieren keine verbindlichen oder konsensual geteilten Maßstäbe für die Beurteilung räumlicher Differenzierung als möglicher Ausdruck von nicht realisierter Gleichwertigkeit. In der Regel werden Teilräume „nach strukturstarken, durchschnittlichen und strukturschwachen Kreisen“ unterteilt, wobei die Strukturstärke als komplexer Indikator unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Einzelindikatoren konstruiert wird (vgl. BMI 2020, S. 30 ff.). Damit wird dann aber unter der Hand ein bundesweiter Durchschnittswert als Sollwert definiert. Ein weiterer kritischer Punkt ist, dass vielfach Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, d. h. materielle Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser, Verkehrswege usw.), untersucht werden, weniger aber deren Wirkung (wie z. B. Gesundheit, Bildung/Qualifikation oder Erreichbarkeit in und von Regionen). Ein besonderes Problem der unzureichenden Konzeptualisierung der Gleichwertigen Lebensverhältnisse ist ihre Multidimensionalität. Die Wahrnehmung Gleichwertiger Lebensverhältnisse bzw. ihres vermeintlichen Verlustes hängt eng mit individuellen Präferenzen zusammen. Es ist letztlich eine sehr individuelle Entscheidung, ob „grünes“ Umfeld und soziale Nähe oder schnell erreichbare differenzierte Infrastruktur und urbane Vielfalt präferiert werden. In individualisierten Gesellschaften ist es nahezu ausgeschlossen, Gleichwertigkeit eindeutig zu bestimmen. So ist und bleibt der Inhalt der politisch zentralen Leitvorstellung Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse durchaus umstritten (vgl. Danielzyk 2020).
Es gibt gegenwärtig eine Fülle von Förderansätzen für ländliche Räume generell wie für strukturschwache Regionen im Besonderen. Die EU, verschiedene Bundesministerien, alle Landesregierungen (und darin wiederum verschiedene Ressorts) unterstützen die Entwicklung ländlicher Räume. Ein zentrales Problem der Förderpolitik ist, dass es in der Regel um befristete Förderungen bzw. Zuschüsse für Projekte, Ansätze und Einrichtungen geht (vgl. Danielzyk 2020; Grabski-Kieron 2020). Dabei ist ein zentrales Problem vieler Kommunen und Regionen in den ländlichen Räumen eine unzureichende personelle und finanzielle Grundausstattung. Ohne diese können weder Förderungen adäquat akquiriert, noch entsprechende Vorhaben umgesetzt werden. Für eine verbesserte Grundausstattung der Kommunen und Regionen sowie für eine Verstetigung innovativer Ansätze gibt es allenfalls ansatzweise Lösungen.

Um die Förderansätze für ländliche Räume besser zu koordinieren und zu integrieren sind in der jüngeren Vergangenheit komplexe Ansätze kooperativer strategischer Regionalentwicklung entstanden. Sie dienen dazu, nicht nur die zur finanziellen Förderung in Aussicht genommenen Vorhaben besser zu qualifizieren und ihre Unterstützung zu koordinieren, sondern auch Netzwerke der für die Regionalentwicklung relevanten Akteure in ländlichen Räumen zu initiieren. Zu diesen Ansätzen gehören etwa das seit 2000 in Nordrhein-Westfalen existierende Programm „REGIONALE NRW“ und in Niedersachsen das sogenannte Südniedersachsenprogramm und die Programme für „Zukunftsräume“ und „Zukunftsregionen“. Diese komplexen integrativen Ansätze teilen einige Prinzipien, die zugleich allgemein auf Merkmale einer kooperativen strategischen Regionalentwicklung zur Förderung der Innovationsfähigkeit von Regionen verweisen:
- Freiwilligkeit der Kooperation und des Zuschnitts des Handlungsraums;
- zeitliche Befristung, Konzentration auf ein Präsentationsjahr im Sinne einer „Festivalisierung“, die die Außeralltäglichkeit des Handelns unterstützt;
- die Etablierung einer regionalen „Agentur“ für das Management der Regionalentwicklung, die unabhängig von und zugleich im engen Kontakt mit politisch-administrativen Strukturen Regionalförderung betreibt;
- Förderung der Innovation durch Wettbewerb auf allen Ebenen;
- offene Themenwahl im Sinne einer von den regionalen Akteuren selbst bestimmten Schwerpunktsetzung.
Bei den REGIONALEN in NRW (vgl. MHKBG 2022) findet aktuell vor allem eine Fokussierung auf Digitalisierung und die Schaffung urbaner Lebensqualitäten in den Klein- und Mittelstädten ländlicher Räume statt. Damit sind zentrale „Faktoren“ für eine erfolgreiche Regionalentwicklung in ländlichen Räumen, die vor allem Innovationsfähigkeit – in ökonomisch-technologischer wie gerade auch in sozial-kultureller Hinsicht – fördert, benannt. Das sind wesentliche (förderliche) Rahmenbedingungen für ökonomische und gesellschaftliche Dynamik, wozu auch das Bleiben bzw. das Zurückkehren der jüngeren und gut qualifizierten Bevölkerungsgruppen gehört.
Gleichwertige Lebensverhältnisse sind letztlich nur in einem Zusammenwirken von lokalen und regionalen Initiativen, externen Impulsen und staatlicher Verantwortungsübernahme realisierbar.
Gleichwertige Lebensverhältnisse sind letztlich nur in einem Zusammenwirken von lokalen und regionalen Initiativen, externen Impulsen und staatlicher Verantwortungsübernahme realisierbar. Dabei ist die oben herausgestellte Vielfalt ländlicher Räume angemessen zu berücksichtigen, was am besten durch flexible und integrative Ansätze, wie sie gerade geschildert wurden, geschehen kann. Es liegt nahe, neben der regionalpolitischen/raumordnerischen Leitvorstellung Gleichwertiger Lebensverhältnisse noch ein etwas anschaulicheres Leitbild, etwa zur „territorialen Vielfalt“, zu entwickeln, was allerdings bislang nicht realisiert worden ist (vgl. Danielzyk 2020).
Fazit
Ländliche Räume in Deutschland zeichnen sich durch eine große Vielfalt der Strukturen und Entwicklungen aus. Es ist keineswegs so, wie manche stereotype Darstellungen suggerieren mögen, dass alle ländlichen Räume strukturschwach und förderbedürftig seien. Vielmehr weisen manche ländlichen Räume eine erstaunlich hohe Dynamik in sozialer und ökonomischer Hinsicht aus. Gerade die global agierenden Klein- und Mittelbetriebe, die eine ganz besondere Stärke der deutschen Volkswirtschaft ausmachen (sogenannte hidden champions), haben ihre Standorte oft in ländlichen Räumen (vgl. Lang/Vonnahme 2020). Im Osten Deutschlands leiden allerdings viele ländliche Räume immer noch stark unter den Folgen der tiefgreifenden Transformation nach 1989/1990. Insoweit müssen regionalpolitische Handlungsansätze zur Verwirklichung Gleichwertiger Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen adäquat, d. h. sehr regionalspezifisch gestaltet werden.
Der Digitalisierungsschub in Folge der Corona-Pandemie verändert die Wohn- und Arbeitsweisen (Stichwort: Homeoffice) deutlich. Ob das für alle ländlichen Räume neue Chancen mit sich bringt oder nur die „Ränder“ der großen Agglomerationen begünstigt, ist eine empirisch noch nicht beantwortbare Frage. Es ist anzunehmen, dass durch diese Entwicklungen die Verflechtungen zwischen städtischen und ländlichen Räumen in vielen Fällen weiter gestärkt werden und sich Lebensweisen noch stärker angleichen. Ein entscheidender Faktor für die Zukunft der ländlichen Räume ist, ob es stärker als bisher gelingt, junge und qualifizierte Bevölkerungsgruppen zum Bleiben bzw. Rückkehren zu gewinnen. Dafür sind neben attraktiven Wohnungsangeboten auch eine kulturelle Offenheit und soziale Vielfalt sowie ein Mindestmaß an infrastrukturellen Angeboten und gute verkehrliche Erreichbarkeit wichtige Faktoren.
Zum Autor

Rainer.Danielzyk@arl-net.de