Herausforderungen und Fallstricke
Aus Sicht der volkshochschule stuttgart, einer der größten Weiterbildungseinrichtungen in Baden-Württemberg, und als Leiterin der Stabstelle Inklusion kann ich sagen: Wir haben uns auf den Weg gemacht und sind im bundesweiten Vergleich in einer Vorreiterfunktion: In den letzten zehn Jahren konnten wir unsere inklusiven Bildungsangebote kontinuierlich ausbauen und auch unser Netzwerk an Kooperationspartner*innen stetig erweitern. Und trotzdem stehen wir noch am Anfang.
Warum ist das so und was braucht es, um weiterzukommen?
Welche Rahmenbedingungen sind notwendig?
Barrierefreiheit ist sicher der Begriff, der den meisten als erstes einfällt. Da gibt es die bauliche Barrierefreiheit. Denn was nutzen die tollsten Kurse, wenn die Teilnehmenden sie aufgrund von Treppenstufen oder fehlenden behindertengerechten Toiletten nicht besuchen können? Mit dem TREFFPUNKT Rotebühlplatz in der Stuttgarter Stadtmitte hat die vhs stuttgart ein weitgehend barrierefreies, offenes, attraktives und gut erreichbares Veranstaltungsgebäude, in dem sie ihre Bildungsangebote durchführen kann.
Damit sich die Teilnehmenden mit Behinderung in diesem großen Gebäude besser zurechtfinden und sich sicherer fühlen, mache ich regelmäßig Führungen durch das Gebäude. So bekommt das Angebot der vhs stuttgart „ein Gesicht“ und wir können Schwellenängste abbauen. Bei einer der ersten Führungen sagte mir ein Teilnehmer mit Behinderung: „Jetzt habe ich das Gebäude immer von außen gesehen und dachte, hier sind ganz wichtige Menschen drin. Und jetzt bin ich auch hier!“
Das macht deutlich, wie selten Menschen mit Behinderung das Gefühl haben, anderen auf Augenhöhe begegnen zu können und wie viel wir noch daran arbeiten müssen, sie an der Gestaltung unserer Stadtgesellschaft zu beteiligen. Zudem verdeutlicht es, wie viel selbstverständlicher der Besuch einer Volkshochschule für Menschen mit einer Behinderung noch werden muss. Wir jedenfalls tun alles dafür, dass diese Vision so schnell wie möglich zur Realität wird.
Volkshochschule auf dem Weg
Schon im Jahr 2013 haben wir uns auf den Weg gemacht, inklusiv zu werden. Angefangen haben wir mit 7 Kursen überwiegend im handwerklichen Bereich, heute bieten wir im Jahr ca. 150 inklusive Formate in allen unseren Programmbereichen – natürlich auch im Themenschwerpunkt Politik an.
Davon abgesehen können Teilnehmende mit überwiegend körperlichen Behinderungen oder Sinneseinschränkungen schon immer an unseren Kursen teilnehmen, da die baulichen Voraussetzungen dafür gegeben sind.
Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Mehrfachbehinderung hingegen hatten bisher nicht wirklich die Wahl: So braucht es neben der baulichen Barrierefreiheit doch vor allem auch eine organisatorische: Wie können sich Menschen mit einer kognitiven Behinderung anmelden? Sind die Mitarbeiter*innen sensibilisiert für deren Anliegen? Gibt es eine Assistenz? Wie werden die Inhalte vermittelt: in verständlicher Sprache, im Frontalunterricht, in der Diskussion? Wie sind die Teilnehmenden-Gruppen zusammengesetzt? Haben Menschen mit und ohne Behinderung die Möglichkeit, gemeinsam auf Augenhöhe zu lernen?
Die Assistenzen bilden einen ganz wichtigen Baustein zu mehr Inklusion in der Erwachsenenbildung.
An der vhs stuttgart läuft die Anmeldung über eine zentrale Stelle, die alle Bedarfe erfasst, ggf. Assistenzen aus dem eigenen Assistentenpool vermittelt und mit den Betreuer*innen und Einrichtungen der Behindertenhilfe im Austausch ist. Sie informiert auch die Kursleitenden über die Zusammensetzung der Kurse, damit diese sich auf die Bedarfe vorbereiten können.
Mit einer Broschüre in verständlicher Sprache veröffentlichen wir das Kursprogramm halbjährlich in Schrift und Bild.
Die Assistenzen bilden dabei einen ganz wichtigen Baustein zu mehr Inklusion in der Erwachsenenbildung. Ohne sie könnten viele Menschen mit Einschränkung nicht an unseren Kursen teilnehmen. In den überwiegenden Fällen geht es „nur“ um die Begleitung auf dem Weg zum Kurs. Oft ist aber genau das der entscheidende Faktor für die Ermöglichung einer Kursteilnahme.
Inhalte barrierefrei gestalten
Ein weiterer wichtiger Pfeiler in unserer inklusiven Bildungsarbeit ist die inhaltliche Barrierefreiheit: Dank unseres Kurskonzeptes wird es beinah allen Menschen ermöglicht, sich ein Thema niedrigschwellig zu erschließen – und zwar unabhängig von einer Behinderung. Konkret bedeutet das: Wir lernen mehr im Sprechen und weniger im Schreiben, mehr mit Fotos, Bildern und auch beim Singen von Liedern. Wer kennt nicht Cantare oh oh oh von Domenico Modugno!
Bei unseren inklusiven Sprachangeboten sind die Teilnehmenden oft unsicher: Ist das auch wirklich ein Kurs für Anfänger*innen? Oder bin ich wieder der/die Einzige, die wirklich „nichts kann“? Wir können sie dann immer beruhigen. Denn unsere Kurse sind tatsächlich inklusiv, also ganz ohne inhaltliche Zugangsbeschränkungen.
Im Kontext politischer Kursinhalte wird diese Frage kaum gestellt. Ist es etwa selbstverständlich, dass Politik als elitäres Thema wahrgenommen wird? Im Fernsehen diskutieren Politiker*innen mit Akademiker*innen über Themen, bei denen sich Menschen mit Behinderung meist gar nicht trauen mit zu diskutieren. Dabei geht Politik doch alle an!
Deswegen lassen sich Inhalte in der inklusiven Bildung am besten durch praktische Beispiele vermitteln, die den persönlichen Bezug deutlich machen. Da liegt es nahe, anstehende politische Wahlen als Anlass für ein inklusives Kursformat zu wählen. Denn Politik ist oft viel zu abstrakt und nur schwer greifbar. Häufig höre ich Sätze wie: „Was haben die Politiker*innen im Fernsehen mit meinem Leben zu tun?“ Bei Wahlen hingegen ist die Sache relativ klar: Da kann ich meine Stimme abgeben, da bin ich aktiv beteiligt, das betrifft meinen Alltag.
Bei unseren inklusiven Wahlveranstaltungen erinnern wir die Politiker*innen auf dem Podium immer wieder daran, langsamer und verständlicher zu sprechen. Leider nicht immer mit Erfolg. Aber schon allein der Hinweis ist wichtig und kann Sensibilisierung schaffen.
Letztendlich profitieren wir doch alle davon, wenn Inhalte in einem angemessenen Sprechtempo vermittelt werden. Darüber hinaus engagieren wir bei solchen politischen Diskussionen oft Schriftdolmetscher*innen, die das Gesagte nochmal zum Nachlesen mitschreiben. Im Vorfeld solcher Podiumsdiskussionen bieten wir häufig sogenannte Vorbereitungskurse an, in denen aktuelle politische Themen aufgegriffen und besprochen werden. Auch Fragen für die spätere Podiumsdiskussion werden gemeinsam mit den Teilnehmenden formuliert. So können sie den Gesprächen bei der Veranstaltung besser folgen und sich einbringen.
Bei einer Veranstaltung zu Kommunalwahlen beispielsweise gab es so viele Kandidat*innen, dass wir mit dem erprobten Konzept einer Podiumsdiskussion gescheitert wären. Spontan wurde von allen Beteiligten entschieden, dass sich die Kandidat*innen mit 1–2 Sätzen vorstellen und sich dann direkt mit dem Publikum an den jeweiligen Tischen austauschen. Dieses Format kam bei allen Beteiligten erstaunlich gut an. Die Teilnehmenden mit Behinderung kamen den Politiker*innen so nahe wie selten zuvor – und umgekehrt natürlich auch. Das war eine effektive Methode, um Berührungsängste und Vorurteile abzubauen.
Und genau da zeigt sich wieder die Stärke inklusiver Formate: In einer inklusiven Runde wird klar, dass sich die Fragestellungen häufig gar nicht sosehr unterscheiden. Ob ich mich als Fußgänger*in oder eben als Rollstuhlfahrer*in ärgere, weil ein E-Roller so abgestellt ist, dass ich kaum daran vorbeikomme, macht keinen Unterschied. Die Problematik ist dieselbe und muss von der Politik gelöst werden.
Wir bieten politische Bildung in unterschiedlichen Formaten an. Als Gruppenkurs, in Diskussionsrunden mit Expert*innen und Politiker*innen oder im Coaching von einzelnen Personen.
Zum Engagement motivieren und qualifizieren
Natürlich engagieren sich viele Menschen mit Behinderung schon heute politisch. Sei es als Frauenbeauftragte in einer Einrichtung der Behindertenhilfe oder in einem Beirat Inklusion der Kommune. Die wenigsten sind dabei schon von Anfang an mit allen Fähigkeiten und Kenntnissen ausgestattet. Zur inklusiven politischen Bildung zählt die vhs stuttgart deshalb auch das Coaching von Teilnehmenden, die selbst aktiv werden wollen und dafür den Rhetorik-Kurs oder das Seminar zur besseren Körperhaltung beim Sprechen benötigen. Das ist wichtig, damit vorgebrachte Anliegen ernst genommen werden.
Menschen mit Behinderung, die sich politisch engagieren, sind oft persönlich von Exklusion betroffen. Es ist mit Emotionen verbunden, wenn jemand jeden Morgen mit dem nicht barrierefreien Zugang zur Haltestelle kämpfen muss. Wenn der/die Betroffene das Anliegen dann, natürlich emotional, vorbringt, wird es als Einzelfall abgestempelt, schnell nicht ernst genommen. Im Coaching lernen die Menschen mit Behinderung, wie sie sich ausdrücken und Anliegen sachlich vorbringen können, um von anderen ernst genommen zu werden.
Menschen mit Behinderung, die sich politisch engagieren, sind oft persönlich von Exklusion betroffen.
In der Inklusion ist es wichtig, einen langen Atem zu haben. Leider muss Inklusion oft über Projekte finanziert werden, was eine langfristige Planung nicht möglich macht. Es wäre wünschenswert, über einen längeren Zeitraum planen und den inklusiven Prozessen die benötigte Zeit geben zu können. An der vhs stuttgart haben wir das Glück, dass die gesamte Institution, von der Geschäftsleitung bis zum Mitarbeitenden an der Information, überzeugt hinter dem Thema steht. Und so wurden unsere inklusiven Angeboten schon bald zu einem festen Programmbestandteil gemacht.
Projekte sind wichtig und geben Einrichtungen die Möglichkeit inklusive Formate auszuprobieren. Sie dann zu festigen und weiterzuentwickeln, ist aber mindestens genauso wichtig.
Oft besuchen Politiker*innen Einrichtungen der Behindertenhilfe vor Wahlen. Diese Besuche sind wichtig. Noch wichtiger wäre es aber, die Situation permanent zu verfolgen. Wie gesagt: Inklusion ist kein „Kurzstreckenrennen“, es ist ein Grundrecht!
Während der Corona-Pandemie hat die vhs stuttgart in Kooperation mit einer Einrichtung der Behindertenhilfe ein digitales Format etabliert. Wir haben Politiker*innen angefragt und sie in ihrer „Sprechstunde“ via Zoom besucht. Die Treffen wurden wiederum inhaltlich mit Fragen vorbereitet. Das hat toll funktioniert. Auch wenn digitale Formate speziell für Menschen mit kognitiver Einschränkung, aufgrund der technischen Anforderungen, eine große Hürde sind und sie dafür eine Unterstützung benötigen.
Projekte sind wichtig und geben Einrichtungen die Möglichkeit inklusive Formate auszuprobieren. Sie dann zu festigen und weiterzuentwickeln, ist aber mindestens genauso wichtig.
Um das Format auch in Präsenz zu „retten“ sind wir aktuell dabei, einen politischen Stammtisch zu etablieren. Das Wort Stammtisch versuchen wir eigentlich zu vermeiden, weil der Begriff ein veraltetes Bild suggerieren könnte. Tatsächlich trifft es das Format aber ganz gut. Ein regelmäßiges Treffen in einem inklusiven Restaurant im Haus der vhs. Wir werden moderiert von einem auch in der Inklusion geübten Dozenten, können über tagesaktuelle Themen sprechen, uns aber auch regelmäßig Expert*innen und/oder Politiker*innen in die Runde einladen.
Den Anfang macht die Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung der Stadt Stuttgart. Sie spricht über ihre Aufgaben und die Themen, für die sie sich einsetzt. Vielleicht kann sie Tipps geben, wo man sich als Mensch mit Behinderung selbst noch stärker in einer Stadtgesellschaft engagieren kann?
Das Format ist bewusst niedrigschwellig für alle Beteiligten, die Teilnehmenden und die eingeladenen Gäste.
Hier möchte ich Verena Bentele, die ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen zitieren: Sie sagt zur UN-Menschenrechtskonvention:
„Das Leitbild der Behindertenrechtskonvention ist ‚Inklusion‘: Es geht also nicht darum, dass sich der oder die Einzelne anpassen muss, um teilhaben, ‚mithalten‘ zu können. Es geht darum, dass sich unsere Gesellschaft öffnet. Dass unser selbstverständliches Leitbild Vielfalt wird und die Grundhaltung, dass jede/r Einzelne wertvoll ist mit den jeweiligen Fähigkeiten und Voraussetzungen. Die Konvention ist am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft getreten und die Bundesregierung hat im September 2011 ihren nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention veröffentlicht. Wir befinden uns auf einem guten Weg, sind aber noch lange nicht am Ziel. Inklusion braucht Bewegung, Mut und Energie.“
Und Inklusion braucht Visionen. Ohne die Realität aus den Augen zu verlieren, benötigt es das „Bild“ einer Realität, in der wir momentan noch nicht leben. Einer Gesellschaft, in der alle Menschen das gleiche Recht auf Teilhabe haben und Inklusion ganz selbstverständlich zu einer gleichberechtigten Gesellschaft beiträgt.
Auf dieses „Bild“ wollen wir auch mit inklusiver politscher Bildung hinarbeiten. In kleinen Schritten, aber immer vorwärts!
Zur Autorin
katrin.wahner@vhs-stuttgart.de