Außerschulische Bildung 3/2021

Vom systemischen Risiko zum realen Ernstfall

(Post-)Coronale Verwerfungslinien

Die Kerndebatten und Maßnahmen der letzten Monate voraussetzend, wird in diesem Beitrag die Pandemie am Kreuzungspunkt ganz unterschiedlicher Dimensionen verortet, die weltweit zu umfangreichen Verwerfungen und einer Verstärkung von Ungleichheiten geführt haben. Die politischen Folgen der Pandemie werden thematisiert und es wird vorausschauend ein Blick auf das wahrscheinliche politische und soziale Erbe der Pandemie geworfen.  von Petra Dobner

Anderthalb Jahre Corona-Pandemie haben Deutschland nicht nur einen neuen Sprachschatz beschert (vgl. Leibniz Institut für deutsche Sprache 2006 ff.), sie haben auch allen Bürger*innen – dank eines grundlegend unerwünschten Gegenstandes – eine aus Erfahrungen, Wissen und Mutmaßungen gespeiste Horizonterweiterung aufgezwungen. „R-Wert“, „Inzidenzzahl“ und „FFP2-Maske“ gehen heute allen so problemlos von den Lippen wie vordem „Urlaub“, „Einkaufen“ und „Feierabend“. Ob „Lockdown“, „Homeoffice“, „Impfstrategie“ oder „Drosten“, „Lauterbach“, „Spahn“ – niemand wird heute noch fragen, was oder wer das ist. Das in dieser Zeit erworbene gemeinsame Grundwissen sollte jedoch nicht über ein weiteres Kennzeichen der Situation hinwegtäuschen: Die Corona-Pandemie hat einerseits eine globale, unentrinnbare und kollektive Situation geschaffen, andererseits und gleichzeitig sehr ungleiche, überall individualisierte und teilweise auch extrem einsame Erfahrungen erzeugt. Beides – die Kollektivität der Betroffenheit und die Individualität der Erfahrungen – macht das sozialwissenschaftliche Einordnen der Krise zu einer Gratwanderung: Was kann heute noch gesagt werden, was nicht schon von vielen gesagt wurde? Und was kann geschrieben werden, das die individuellen Deutungen der Pandemie weder einfach leugnet noch schlicht übernimmt?

Ich werde mich der Aufgabe im Folgenden so stellen, dass ich den Pandemieverlauf, Kerndebatten der letzten Monate und auch die getroffenen Maßnahmen als prinzipiell bekannt unterstelle und nur dort auf diese eingehe, wo sie mir um meiner Argumente willen erläuterungsbedürftig scheinen. Stattdessen werde ich im Folgenden zunächst die Pandemie am Kreuzungspunkt ganz unterschiedlicher Dimensionen verorten. Anschließend wende ich mich den politischen Folgen zu und versuche, einen Blick auf das wahrscheinliche politische und soziale Erbe der Pandemie vorauszuwerfen.

Die Pandemie als systemisches Risiko

Mit mehr als 180 Millionen Infizierten und fast 4 Millionen Todesfällen (Stand: Sommer 2021) erreicht die Corona-Pandemie das Ausmaß der seit 1981 grassierenden HIV-Infektionen, der weltweit 36 Millionen Menschen zum Opfer fielen, ebenso wenig wie das der Spanischen Grippe nach dem Ersten Weltkrieg mit 500 Millionen Infizierten und geschätzten 50 Millionen Toten (vgl. Statista 2021d). Der Vergleich zu AIDS wird eher selten bemüht: In den westlichen Ländern mit Homosexualität und Drogenkonsum konnotiert, wurde das HIV-Virus als Randgruppenproblematik wahrgenommen, mit „Ausgrenzung, Stigmatisierung und Isolation“ beantwortet und als Strategie sah der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl schlichtes „wegsperren“ vor (vgl. RKI 2017). Weit häufiger werden Parallelen zur Spanischen Grippe gesucht, doch auch hier bestehen Grenzen: Anders als bei der Spanischen Grippe war die weltweite mediale Aufmerksamkeit vom ersten Auftreten der Infektionen an groß, erstmals in der Geschichte von Epidemien und Pandemien wird die politische Maßnahme eines Lockdowns im Zuge von Covid-19 ergriffen, und anders als die Spanische Grippe wird die globale Corona-Pandemie ein „Erinnerungsort“, ein „Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität“ (François/Schulze 2001, S. 17 f.) werden (vgl. Müller 2020).

Die Corona-Pandemie hat einerseits eine globale, unentrinnbare und kollektive Situation geschaffen, andererseits und gleichzeitig sehr ungleiche, überall individualisierte und teilweise auch extrem einsame Erfahrungen erzeugt.

Sie lässt sich damit weniger in die Chronologie der Pandemien als vielmehr in die noch zu erfahrende Reihe weltverändernder Ereignisse einordnen, die Ulrich Beck auf den Begriff der „Metamorphose der Welt“ zu bringen suchte, um seine Analyse der Risikogesellschaft (Beck 1986) konzeptionell zu aktualisieren. Der gegenwärtige Weltzustand, so Ulrich Beck, erfahre eine „umfassende Verwandlung (…), aus der ein vollständig anderer Typus, eine andere Realität, eine andere Art des In-der-Welt-Seins, der Weltsicht und des politischen Handelns hervorgehen.“ (Beck 2017, S. 19) Treiber dieser Veränderungen sind sogenannte Megatrends – dauerhafte, ubiquitäre, globale und komplexe Veränderungen wie Globalisierung und Digitalisierung; systemische Risiken sind ihre Begleiterscheinung. Grundsätzlich besteht ein Risiko dann, wenn wahrscheinlich ein Ereignis mit Schadensfolge eintritt. Von systemischen Risiken wird gesprochen, wenn es „hochgradig vernetzte Problemzusammenhänge mit schwer abschätzbaren Breiten- und Langzeitwirkungen, deren Beschreibung, Bewertung und Bewältigung mit erheblichen Wissens- und Bewertungsproblemen verbunden sind“ (Renn u. a. 2007, S. 176), zu bewältigen gilt. Zeitlich, räumlich und hinsichtlich des Schadens sind systemische Risiken entgrenzt und erzeugen damit ein hohes Maß an Komplexität, Unsicherheit und Ambiguität (vgl. ebd.). Sie streuen über ein breites Feld von Finanzmärkten und natürlichen oder technischen Katastrophen, von der Klimakrise bis zu Infektionskrankheiten – und es wird vermutet, dass ihr globales Auftreten immer wahrscheinlicher wird (vgl. z. B. OECD 2003).

Einzig gewiss ist das Ungewisse

Auch wenn die Corona-Pandemie kein Risiko mehr in dem Sinne ist, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch den Ausbruch von Sars-CoV-2 zur Gewissheit wurde, bleibt sie systemisch riskant unter dem Aspekt ihrer Nebenfolgen. Dabei erstreckt sich das von der Pandemie beherrschte Feld über eine Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen, erzeugt eine komplexe Gemengelage, in der heutige und künftige Unsicherheiten die Gewissheiten weit überwiegen.

„Durch aufgeschobene Lebensentscheidungen wird sich die Unsicherheit der Covid-Zeit weit in die Zukunft nach Corona ausdehnen.“ Foto: AdB

In temporaler Hinsicht dominiert seit anderthalb Jahren Ungewissheit über den weiteren Verlauf und das mögliche Ende der Pandemie: Während Impffortschritte und sinkende Inzidenzzahlen in Deutschland im Sommer 2021 alte Freiheiten wiederbringen, wächst zeitgleich die Sorge um die Ausbreitung der Delta-Variante und eine vierte Welle. Versuche, in die Zukunft zu schauen, wie etwa eine tagesgenaue Prognose des Pandemieendes anhand fortgeschriebener Impfzahlen (vgl. Viehtauer 2021), bleiben mathematische Spielereien, weil sie die Unsicherheiten über die Verfügbarkeit von Impfstoffen und die Entwicklung der Impfbereitschaft nicht aus dem Weg räumen können. Sie zeugen aber von dem wachsenden Bedürfnis, im Rahmen bisheriger Parameter endlich wieder mehr Planungssicherheit für morgen zu gewinnen.

Die grundsätzliche Ungewissheit über die Dauer der Pandemie steht jedoch nur stellvertretend für die Unzahl damit verbundener konkreter Entscheidungsunfähigkeiten und Folgen: Vergleichsweise harmlos scheint die Unplanbarkeit von Urlauben im Vergleich zu den während aller Lockdownphasen unklaren Öffnungsperspektiven für Kitas, Schulen und Hochschulen, Geschäfte, Restaurants, Kulturbetriebe etc., an denen ökonomische Existenzen, Ausbildungschancen und grundlegende Lebenspläne hängen. Im Januar 2021 sahen knapp 80 % der Einzelhandelsunternehmen trotz Hilfsmaßnahmen ihre Existenzsicherung gefährdet. Der deutsche Handelsverband geht davon aus, dass 60 % der Einzelhändler in Innenstädten ohne weitere staatliche Hilfen Insolvenz anmelden müssen (vgl. HDE 2021). Zwischen März 2020 und Juni 2021 wurden insgesamt 142.205 Anträge auf KfW-Corona-Kredite gestellt, mit einem Gesamtvolumen von fast 64 Milliarden Euro (vgl. KfW 2021; vgl. auch Ass Compact 2021).

Eine Krise bezeichnet gemeinhin den Höhepunkt einer problematischen Entwicklung, auf dem sich entscheidet, ob die Krise als Chance genutzt werden kann, eine Rückkehr in den vorherigen Zustand möglich ist oder sie in eine Katastrophe mündet.

Durch aufgeschobene Lebensentscheidungen und notwendig gewordene Unterstützungsleistungen wird die Unsicherheit der Covid-Zeit sich weit in die Zukunft nach Corona ausdehnen: Im Wintersemester 2020 sank die Studienanfängerquote von 57,6 % im Jahr 2019 auf 54,8 % im Herbst 2020; bundesweit wurden in dem Jahr auch zwischen 5,7 (Mecklenburg-Vorpommern) und 14,2 % (Berlin) weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vorjahr (vgl. Statista 2021c). In der Summe müsste es sich um etwa 60.000 junge Leute weniger als im Vorjahr handeln, die weder eine Ausbildung noch ein Studium begonnen haben. In besseren Jahren würde man vermuten, dass sie stattdessen in der Welt Lebenserfahrungen sammelten. Aber was haben sie 2020 gemacht – und was hat 2020 mit ihnen gemacht?

All diese in der Not getroffenen Entscheidungen werden ein Nachspiel haben und verknüpfen die temporale Dimension der Pandemie mit unabsehbaren ökonomischen und sozialen Folgen für Einzelpersonen und die staatliche Entwicklung insgesamt: Im März 2021 schätzte das Finanzministerium die Corona-Schulden auf den unvorstellbaren Betrag von 1,3 Billionen Euro (vgl. Greive/Hildebrand 2021), die irgendwann und von irgendwem zurückgezahlt werden müssen.

Die Ungleichverteilung

In territorialer Hinsicht zeigen sich in der Dynamik des Prozesses die Schattenseiten der Globalisierung: Nach dem mutmaßlich ersten Ausbruch des neuartigen Coronavirus im chinesischen Wuhan Ende Dezember 2019 erklärte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, einen Monat später den Ausbruch zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite und verkündete damit die höchste Warnstufe der WHO. Zu diesem Zeitpunkt waren 18 Länder außerhalb Chinas betroffen, 98 Infekte und keine Todesfälle registriert. Schon Anfang März wurden fast 120.000 Fälle in 114 Ländern und mehr als 4.000 Todesfälle verzeichnet; am 11. März 2020 wurde der Ausbruch von Sars-CoV-2 offiziell zu einer Pandemie erklärt (vgl. WHO 2021b).

Die rasante globale Verbreitung der Pandemie ist leicht erfassbar in zahlreichen Karten dargestellt (vgl. z. B. JHU Corona Virus Resource Center 2021). Verborgener sind die dahinterliegenden globalen Ungleichheiten und Bruchlinien, die durch unterschiedliche Potenziale und Strategien zur Bewältigung der Krankheit verursacht werden. So hatten in den drei am meisten betroffenen Ländern – den USA mit 18,92 %, Indien mit 16,63 % und Brasilien mit 10,14 % Anteil von Fällen gemessen an der Gesamtbevölkerung (vgl. Worldometer 2021) – am 23. Juni 2021 in den USA 45,3 % der Bevölkerung zwei Impfungen erhalten, in Indien lediglich 3,8 % und in Brasilien 11,9 % (vgl. Statista 2021b).

„90 % aller Befragten gaben im November 2020 an, dass ein ‚Auseinanderdriften der Gesellschaft‘ ihre größte Sorge darstellt.“ Foto: AdB

Ein wesentlicher Aspekt bei der Impfstoffverteilung ist das unterschiedliche Vertragswesen, das die Länder weltweit etabliert haben. Insgesamt existierten im März 2021 mehr als 130 Verträge zwischen Pharmakonzernen mit Impfstoffen und Ländern weltweit. Hierbei haben sich Kanada, die USA, Europa und Australien nicht nur gut versorgt, sondern überversorgt: Kanada hat mehr als dreimal so viele Impfstoffe für sich gesichert, wie nötig wären, um die Bevölkerung vollständig zu impfen (335 %), Australien folgt mit 249 und Europa mit 231 %, die USA haben knapp doppelt so viele Impfstoffe vertraglich gesichert wie nötig. Einige wenige Länder haben etwa 100 % Impfstoffe in Aussicht; der Rest der Welt ist teilweise dramatisch und insgesamt unterversorgt (vgl. Bloomberg 2021a). Die Forderungen nach einer fairen Verteilung der Impfstoffe ist nicht nur eine Frage der Moral, Solidarität und Gerechtigkeit, sondern auch vorausschauender Vernunft im Interesse aller: Wissenschaftlich unzweifelhaft ist, dass eine globale Impfquote von mindestens 70 % notwendig ist, um die Pandemie zu beenden. Dieser Stand ist bislang nur in Gibraltar erreicht (vgl. Statista 2021b).

Insgesamt verhält sich die Versorgungsmöglichkeit mit Impfstoffen proportional zum Reichtum der Länder: Bevölkerungen in Ländern mit dem höchsten Einkommen werden 30-mal schneller geimpft als die armer Länder und die reichsten 27 Länder haben Zugriff auf fast ein Viertel aller Impfstoffe, wenngleich hier nur etwa 10 % der Weltbevölkerung leben (vgl. Bloomberg 2021b). Deutschland hat für 2022 bereits weitere 200 Millionen Impfdosen bestellt – für 83 Millionen Einwohner*innen. Gleichzeitige Solidaritätsaktionen, etwa im Rahmen der COVAX-Initiative der WHO, die mindestens 1,8 Mrd. Dosen für ärmere Länder verfügbar machen möchte (vgl. vfa 2021; WHO 2021a), sind wichtig, aber sie ändern das grundlegende Ungleichgewicht zwischen den Möglichkeiten der reichen und der ärmeren Ländern nicht und offenbaren die Verstärkung sozialer Ungleichheiten während der Pandemie.

Soziales und Unsoziales

Letzteres gilt nicht nur in globaler Hinsicht: In ihrem sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Mai 2021 wird deutlich, dass auch in Deutschland die sozialen Folgen der Pandemie bestehende Ungleichheiten erheblich verschärft haben. So stieg die Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt 2020 um 429.000 Personen auf 2,695 Millionen (vgl. Bundesregierung 2021, S. 34), teilweise waren fast 20 % aller Arbeitnehmer*innen der Bundesrepublik in Kurzarbeit (vgl. ebd., S. 35) und hatten entsprechende Einkommenseinbußen zwischen 20 und 40 %. Besonders betroffen waren Menschen mit Migrationshintergrund und unter ihnen noch einmal besonders Geflüchtete (vgl. ebd.). Insgesamt gaben bereits im August 2020 knapp 20 % der Befragten einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage an, dass sie Probleme bei der Deckung ihrer Lebenskosten hätten; im untersten Einkommensquintil waren dies aber 30 %, im oberen weniger als 10 % (vgl. ebd., S. 47).

Für 21 % der Studierenden hat sich die eigene Einkommenssituation während der Pandemie verschlechtert, zusätzlich bei etwa einem Drittel der Studierenden auch die der Eltern. Für 6,2 % der Studierenden traf beides zu und besonders in dieser Gruppe steigt die Tendenz zu Studienabbrüchen. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist im Jahresschnitt 2020 um 817.000 Personen bzw. 12 % gestiegen (vgl. ebd., S. 502). Die Liste lässt sich fortsetzen: Auch wenn die Datenlage insgesamt noch verbessert werden muss, „kann inzwischen als gesichert gelten, dass sich Menschen mit niedrigem sozialen Status und Menschen mit Migrationshintergrund häufiger mit SARS-CoV-2 infizieren und ein erhöhtes Risiko für schwere oder tödliche Verläufe von Covid-19 haben“ (Heisig 2021, S. 341 f.). Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt stieg im Jahr 2020 um 6 %, zwei Drittel der Opfer sind Frauen (vgl. RND 2021). Und: „Wir erleben eine entsetzliche Retraditionalisierung. Die Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen ist wie in alten Zeiten: eine Rolle zurück.“ (Allmendinger 2020, S. 45; vgl. aber auch kritisch hierzu Krohn 2021) Landauf, landab wurden Senior*innen monatelang kaserniert, lebten und starben einsam. Obdachlose, die sich nicht an die Corona-Regeln halten konnten, wurden wegen des Verstoßes teilweise zu drastischen Strafen verurteilt (vgl. SWR 2020).

„Auch in Deutschland haben die sozialen Folgen der Pandemie die bestehenden Ungleichheiten erheblich verschärft.“ Foto: AdB

Die Liste bleibt unvollständig und die Statistik ist ignorant gegenüber den Einzelschicksalen. Bei all diesen Entwicklungen sollte nicht verschwiegen werden, dass die Bundesrepublik enorme finanzielle Anstrengungen unternommen hat, um die Folgen der Pandemie abzufedern. Allein für die Überbrückungshilfen für Unternehmen und Selbständige wurden mehr als 100 Milliarden Euro bereitgestellt, weitere 32 Milliarden kamen für die Finanzierung der Kurzarbeit hinzu (vgl. Bundesregierung 2021; vgl. auch Statistisches Bundesamt 2021).

Politik (nach) der Pandemie

Mit Absicht habe ich den Begriff der Coronakrise weitgehend vermieden. Eine Krise bezeichnet gemeinhin den Höhepunkt einer problematischen Entwicklung, auf dem sich entscheidet, ob die Krise als Chance genutzt werden kann, eine Rückkehr in den vorherigen Zustand möglich ist oder sie in eine Katastrophe mündet. Die Pandemie aber bietet (mit wenigen Ausnahmen, vgl. BDU o. J.) keine Chancen, sie ist der ultimative Schadensfall und hat die Welt quasi über Nacht in einen Ausnahmezustand katapultiert. Dies gilt jedenfalls in einem alltagssprachlichen Sinn; umstritten ist, ob dies auch nach den Maßstäben wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Ausnahmezustand gilt. Jens Kersten hält dagegen: „Wir erleben in der Coronakrise gerade keinen Ausnahmezustand, sondern einen demokratischen Rechts- und Sozialstaat bei der Arbeit. (…) Ja, in der Krisenbewältigung sind der Politik auch rechtswidrige Maßnahmen unterlaufen. Doch diese wurden und werden in der verfassungsstaatlichen Arbeitsteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative ganz überwiegend schnell und konsequent korrigiert.“ (Kersten 2021, S. 87) Im Anschluss an Günter Frankenberg hingegen kann durchaus in der beispiellosen Aussetzung fundamentaler Grundrechte ein Ausnahmezustand diagnostiziert werden. Allerdings erweisen sich die von ihm unterschiedenen Referenzpunkte für die Ausrufung eines Ausnahmezustandes in der Praxis als schwer unterscheidbar: Frankenberg trennt analytisch eine tatsächliche Notsituation, eine Notverordnung als Reaktion auf „politische Krisen und Bedrohungen, die höherer Gewalt gleich gesetzt werden, weil sie (angeblich) den Rahmen und die Routinen üblicher Gefahrenabwehr sprengen“ (Frankenberg 2017, S. 5), und eine herbeigeredete Notlage und deutet damit unterschiedliche Legitimitätsgrade der Abweichung von den üblichen Regeln an. Im Fall von Covid-19 zeigt die Erfahrung, dass durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, ob der Notstand real oder erdacht ist. So sind 33 % einer repräsentativen Befragung überzeugt, dass „die Coronakrise (…) so groß geredet (wurde), damit einige wenige davon profitieren können“, weitere 15,4 % halten das immerhin für möglich (vgl. Schließler u. a. 2020, S. 301). Ob also eine tatsächliche und eine nur behauptete Notlage sich zweifelsfrei unterscheiden lassen, hängt auch vom Vertrauen in Wissenschaft und Politik ab, um das es in der Bundesrepublik derzeit eher schlecht bestellt ist (vgl. Rees/Lamberty 2019). Entsprechend wird auch die Einschränkung der Freiheitsrechte der letzten Monate von den einen als notwendiger Schlüssel zur Lösung der Pandemie, von anderen als diktatorisch empfunden, und so ist die Bevölkerung nicht nur in sozialer, sondern auch in politischer Hinsicht tief gespalten. 90 % aller Befragten gaben im November 2020 an, dass ein „Auseinanderdriften der Gesellschaft“ ihre größte Sorge darstellt, noch vor den Sorgen um die Gesundheit (70 %) und um die eigene wirtschaftliche Situation (58 %; vgl. Statista 2021a, S. 18).

Es gibt in der Summe allen Grund zur Sorge, dass das Ende der Pandemie, wenn es dann endlich einmal erreicht sein wird, nicht das Ende der Katastrophe darstellen wird.

Es gibt in der Summe allen Grund zur Sorge, dass das Ende der Pandemie, wenn es dann endlich einmal erreicht sein wird, nicht das Ende der Katastrophe darstellen wird: Die immensen Schulden, die in der Pandemie angehäuft wurden, werden Verteilungskonflikte weiter anfeuern. In der Pandemie wurden reihenweise politische Fehler (vgl. Dobner/Fischer 2018) gemacht, die es nicht nur zu „verzeihen“ (Spahn) gilt, sondern aufzuarbeiten. Renationalisierungstendenzen und sogar Subnationalisierungstendenzen, wie sie etwa in der Beschränkung der Reisefreiheit innerhalb der Bundesrepublik deutlich wurden, verstärken Ressentiments gegen „die Anderen“, die ohnehin auf dem Vormarsch sind (vgl. Decker/Brähler 2020). Das Amalgam aus Verschwörungsmentalität, Politikverdrossenheit, Rassismus, Sexismus und immer wieder auch Antisemitismus fand in der Pandemie einen hervorragenden Nährboden. Vieles spricht dafür, dass wir es „über die Verweigerung der Corona-Maßnahmen hinaus (…) mit einer demokratiegefährdenden Bewusstseinslage zu tun (haben), die sich mit der Pandemie einen austauschbaren krisenhaften Anlass gesucht hat und diese überdauern wird.“ (Petrik 2021, S. 284) Anders formuliert: Auch die (außer-)schulische politische Bildung steht während und nach der Pandemie vor enormen Herausforderungen – möge der „didaktische Koffer“ (Reinhardt 2014) gut gefüllt sein!

Zur Autorin

Dr. Petra Dobner ist Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft, an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg
petra.dobner@politik.uni-halle.de

Literatur

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