Oder: Warum wir in der politischen Bildung nicht so sehr auf Zielgruppen fixiert sein sollten.
Wenn wir an politische Bildung denken, dann denken wir an ein Angebot, das Menschen stärken soll, sich im komplexen Feld politischer Fragen selbstbestimmt zu orientieren (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2016). Es geht um die Stärkung politischer Urteilsfähigkeit und politischer Handlungsfähigkeit, um Mündigkeit, Teilhabe und Selbstbestimmung. So weit, so unstrittig. Aber das sind natürlich große Ziele, die in der täglichen Arbeit oft heruntergebrochen werden. Je nach Perspektive steht dann auch mal die Stärkung von politischem Interesse, die Förderung der Bereitschaft von Partizipation oder auch der Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten im Vordergrund (vgl. Besand 2009). Aber politische Bildung ist ein besonderer Bildungsbereich, deshalb macht es an dieser Stelle vielleicht auch Sinn darüber nachzudenken, um was es uns nicht geht. In der politischen Bildung (und zwar sowohl schulisch als auch außerschulisch) geht es nicht um eine wie auch immer geartete Propädeutik. Zumindest wenn wir Propädeutik verstehen als eine Bildung, die auf ein wissenschaftliches Studium eines bestimmten Faches oder Subjektes vorbereitet. Wir brauchen politische Bildung nicht nur für zukünftige Politik- oder Sozialwissenschaftler*innen. Politische Bildung versteht sich auch nicht als Elitenbildung. Es geht hier nicht um die Ausbildung von politischen Amts- oder Entscheidungsträger*innen. Es geht vielmehr um die Grundlage und Ermöglichung politischer Mitgestaltung von allen Menschen (vgl. Jugel et al. 2020). Wir sagen allen Menschen und nicht allen Bürger*innen, denn politische Bildung ist auch nicht den Staatsbürger*innen vorbehalten und vermittelt deshalb auch nicht alleine die Fähigkeit oder Bereitschaft, die nötig ist um eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen (vgl. Salomon 2012, S. 75). So wie es in der Politik in letzter Konsequenz um die Frage geht, wie wir zusammen leben wollen, geht es in der politischen Bildung um die Förderung der Fähigkeiten, die nötig sind, sich über diese Frage – also wie wir zusammen leben wollen – (gewaltfrei) zu verständigen (vgl. Besand 2018). Das ist eigentlich auch kein wirklich neuer Gedanke. Denn die Ermöglichung politischer Teilhabe für alle bildet von jeher den Ausgangspunkt politischer Bildung (vgl. Jugel et al. 2020).
Zu der Frage, ob und inwiefern die politische Bildung diesem Anspruch gerecht wird, wurde in den vergangenen Jahren sehr viel diskutiert (vgl. Besand 2017; Hölzel/Jahr 2019; Jugel et al. 2020) und sie ist tatsächlich überaus bedeutungsvoll. Denn die Herausforderung, vor der wir in der politischen Bildung und zwar insbesondere in der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenbildung stehen, besteht im Wesentlichen darin, dass wir auf Freiwilligkeit angewiesen sind. Oder, um es noch direkter zu formulieren, in der politischen Bildung ist es uns über lange Zeit im Rahmen von Bildungsangeboten nicht gelungen Menschen zu erreichen, die nicht bereits von sich aus an politischen Fragen interessiert gewesen wären. Für dieses Problem gibt es viele Beschreibungen. Wir bekehren nur die Bekehrten, sagen manche in diesem Zusammengang. Wir tragen Eulen nach Athen, ist ein anderer passender Sinnspruch. Im Englischen sagt man sinngemäß auch, wir tragen Sand an den Strand. Und das wollen wir nicht – das will niemand – dazu ist das Ganze zu viel Arbeit und kostet zu viel Geld. Aber wie lassen sich Menschen erschließen, die nicht bereits vorab an Politik interessiert sind? Der Zielgruppenansatz versprach eine Lösung (vgl. Besand/Jugel 2015b). Wir entwickeln spezifische Angebote für bislang noch wenig erreichte Zielgruppen. Eigentlich eine gute Idee: Politische Bildung für „politisch Verdrossene“, „Politische Bildung für politikferne Gruppen“, „Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“ „Orientierungskurs für zugewanderte Menschen“ oder „Politische Bildung im ländlichen Raum“. Das alles sind Überschriften und Begriffe, unter denen die entsprechenden Debatten zusammengefasst werden können (vgl. Besand/Jugel 2015a). Gemeinsam haben diese Debatten, dass sie oft von defizitorientierten Zielgruppenbeschreibungen ausgehen, die sich empirisch nur sehr schwer nachvollziehen lassen. Denn man kann sich ja schon fragen: Welche besondere politische Bildung brauchen Menschen jenseits der urbanen Zentren? Brauchen Frauen eine andere politische Bildung als Männer, Zis-Menschen eine andere als Queere? Wie sieht es mit den Menschen im Osten aus, brauchen auch die eine andere politische Bildung als die im Westen? So, wie ich die Frage hier formuliere, hören Sie schon heraus, dass ich dazu neige, diese Fragen alle mit NEIN zu beantworten. Aber ich bitte Sie, wirklich selbst einmal über diese Frage nachzudenken. Und damit wären wir dann auch automatisch bei unserer nächsten Frage:
Brauchen wir in der politischen Bildung lauter zielgruppenspezifische Spezialdidaktiken?
Selbstverständlich sind Menschen unterschiedlich. Sie haben unterschiedliche Ressourcen, sich über politische Fragen Gedanken zu machen, sie machen unterschiedliche Erfahrungen, haben unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse, müssen unterschiedliche Herausforderungen bewältigen. Eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern hat eine andere Perspektive auf politische Fragen als ein Schweinebauer, der sich über die europäische Landwirtschaftspolitik ärgert, oder eine jugendliche Klimaaktivistin, die sich für CO2-Reduzierung einsetzt. Die alleinerziehende Mutter teilt ihre Perspektive aber mit sehr vielen anderen Müttern und Vätern unabhängig von Wohnort, Herkunft, Geschlecht, Alter und (wie vielfältige Studien belegen) auch Bildungsvorerfahrungen (vgl. Butterwegge 2013). Genau so schneiden wir Zielgruppenbeschreibungen aber in der Regel zu.
Wenn wir uns Projektanträge im Bereich der politischen Bildung ansehen, dann ist das oft das erste, was sich erkennen lässt (vgl. BMFSFJ 2020). Für wen ist das eigentlich? Wir machen Bildungsangebote für bestimmte Altersgruppen, wir berücksichtigen Bildungsvorerfahrungen, soziale Lagen, Herkunft und Geschlecht und seit Neustem denken wir verstärkt über Strategien nach, mit denen sich der sogenannte ländliche Raum besser erreichen lässt. Warum machen wir das? Natürlich nur aus den allerbesten Absichten heraus (und weil die Fördermittelgeber*innen das von uns verlangen). Genau das ist natürlich auch ein überaus schlagender Grund – und solange das so ist, werden wir es auch weiter tun müssen. Aber in der politischen Bildung geht es um selbstbestimmtes Denken und deshalb sind wir als politische Subjekte schon aufgefordert, auch selbstbestimmt und kritisch über diese Frage nachzudenken. Also noch einmal: Warum denken wir in der politischen Bildung so viel über Zielgruppen nach und warum spielen Alter, Geschlecht sexuelle Orientierung, Herkunft, soziale Lage und Bildungsvorerfahrung hier eine so große Rolle?
Warum denken wir in der politischen Bildung so viel über Zielgruppen nach und warum spielen Alter, Geschlecht sexuelle Orientierung, Herkunft, soziale Lage und Bildungsvorerfahrung hier eine so große Rolle?
Über lange Zeit haben wir uns an junge Menschen gerichtet, weil wir davon ausgegangen sind, dass diese sich nicht von alleine für Politik interessieren und weil junge Menschen natürlich sowieso noch viel zu lernen haben (vgl. Besand 2009). Wir haben uns an zugewanderte Menschen gerichtet, weil diese (vermeintlich) Hilfe benötigen, sich in der neuen (politischen) Umgebung zu orientieren und unsere Werte und Normen kennenlernen müssen (vgl. Rind-Menzel 2019). Wir haben uns an Menschen gerichtet, die wir als bildungsfern beschrieben haben, weil sie eben bildungsfern sind und wir ihnen Bildung anbieten möchten (vgl. Kohl/Seibring 2012). Hier ist es am schnellsten aufgefallen. Bildungsfern, das ist ein furchtbares Wort. Politikfern war entsprechend der (nur auf den ersten Blick bessere) Nachfolgebegriff. Aber seine Konjunktur währte nicht lange, denn es kam schnell die Frage auf, wer eigentlich mit diesem Begriff beschrieben wird – die Hauptschülerin oder der Maschinenbauprofessor? Menschen in prekären Lebensverhältnissen war ein weiterer Versuch einer begrifflichen Neubestimmung. Aber wer will schon so genannt werden?
Bei genauer Betrachtung beinhalten fast alle Begriffe, die wir zu Zielgruppenbeschreibung verwenden solche Invektiven, also Herabsetzungen und Zuschreibungen (vgl. Besand/Jugel 2015b). Sie könnten jetzt sagen, ich sei überempfindlich. Was ist denn herabsetzend, wenn wir von Menschen aus dem ländlichen Raum sprechen? Die wohnen doch wirklich da – das wird man wohl noch sagen dürfen. Na klar darf man das sagen. Die Frage ist eher, warum wir in der politischen Bildung auf einmal so besessen davon sind, Bildungsangebote genau an diese Zielgruppe heranzutragen (vgl. Löffler 2022). Glauben wir, die Menschen in Klein- und Mittelstädten hätten es noch nicht begriffen? Wir müssen die Landbevölkerung durch politische Bildung wieder für einen vernünftigen politischen Prozess einfangen? Politische Bildung war noch nie gut darin Menschen einzufangen und das ist auch nicht ihre Aufgabe. Es geht vielmehr darum Diskurse zu organisieren, sich über Kontroversen zu streiten und zu gemeinsamen, ausgewogenen Lösungen zu kommen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Pragmatisch macht es durchaus Sinn, sich über Zielgruppen Gedanken zu machen, die man systematisch nicht erreicht und zumindest in einer Übergangszeit auch Angebote speziell für diese Zielgruppe zu entwickeln. Denn auf diesem Weg ist es möglich Erfahrungen zu machen und selbst zu lernen, wo Interessen und spezifische Bedürfnisse liegen und wie genau Herausforderungen zu beschreiben sind, die sich bei der Arbeit mit dieser Zielgruppe ergeben. Auch Schutzräume können sinnvoll sein, um z. B. mit Opfern rassistischer Gewalt arbeiten zu können, ohne diese gleichzeitig der entsprechenden Gewalt auszusetzen. Aber aufs Ganze gesehen können wir nicht mit einer Segregation von Zielgruppen zufrieden sein. Zumal in einem Bildungsbereich, in dem die Kontroversen im Mittelpunkt stehen und Austausch organisiert werden soll.
Beispiel 1: Politische Bildung im Supermarkt
Vielleicht hilft es, wenn wir den Zusammenhang an einem ganz konkreten Beispiel besprechen. Wir versetzen uns dazu noch einmal in das Frühjahr 2020. Wir erleben gerade die erste Welle der Pandemie. In Deutschland sind Infektions- und Inzidenzwerte im Rückblick betrachtet zwar noch vergleichsweise moderat, aber wir haben durch die schrecklichen Bilder aus Bergamo und New York gesehen, wie es aussieht, wenn die Pandemie außer Kontrolle gerät. Deutschland befindet sich im ersten sogenannten Lockdown und bereits jetzt werden die ersten gesellschaftlichen Gräben sichtbar (vgl. Besand 2020) und diese Gräben ergeben sich zwischen den Menschen, die ängstlich zuhause bleiben, Gesichtsmasken tragen und sich an Kontaktbeschränkungen halten auf der einen Seite und auf der anderen Seite Menschen, die ihre Freiheitsrechte einklagen, auf die Politiker*innen schimpfen, Massendemonstrationen organisieren und später dann auch auf die Impfung verzichten werden. Die Lage ist angespannt. Das sächsische Sozial- und Gesundheitsministerium organisiert Dialogveranstaltungen im ländlichen Raum auf Markplätzen. Die Ministerin steht den Bürger*innen Rede und Antwort. Aber halt! Die Bürger*innen – wer ist das? Wer kommt auf den Marktplatz, um mit der Ministerin zu sprechen – wer nimmt ein solches Veranstaltungsangebot an? Infektionsängstliche Menschen wohl eher nicht. Wir sind im Frühjahr 2020, das Virus hatte noch nichts von seinem Schrecken verloren. Ein Impfstoff war in weiter Ferne. Vieles war unklar. Der einzige Ort, an dem zu dieser konkreten Zeit noch alle Menschen zusammenkommen (und selbst das ist eine zu pauschale Aussage) sind die Supermärkte, die sogenannten Geschäfte des alltäglichen Bedarfs. Hier müssen alle hin – das lässt sich nicht vermeiden. Aber eine Marktplatzveranstaltung oder eine Veranstaltung in einer Gemeindehalle – das können nur die Unängstlichen bzw. die, die – aus welchen Gründen auch immer – glauben, dass sie das Virus schon überstehen werden.
Was bedeutet das jetzt für unser Beispiel? Hier kommt es ein bisschen darauf an, was die Ministerin mit ihrer Initiative erreichen wollte und das können wir ehrlicher Weise nicht ganz genau wissen. Aber wenn wir dieses Beispiel als analytische Folie nutzen um zu verstehen, in welche Fallen politische Bildung tappen kann, dann kann man schon sagen, dass hier passiert, was auch in der politischen Bildung oft passiert. Bildungsangebote werden entwickelt, weil es irgendwo ein sichtbares Problem gibt. Eine Gruppe wird laut, schießt quer oder artikuliert Unmut. Dann kommt es ein bisschen darauf an, wer diese Gruppe ist. Antifaschist*innen können beispielsweise recht laut werden, ohne dass man sich ihnen zuwendet. Aber wenn es sich um eine Gruppe handelt, die für sich in Anspruch nimmt, ganz durchschnittlich zu sein – ganz normale Bürger*innen – dann können diese Bürger*innen schon davon ausgehen, dass früher oder später etwas passiert. Man wendet sich ihnen zu. Es gibt ein Angebot.
Zurück zu unserem Beispiel und den Veranstaltungsformaten der sächsischen Sozial- und Gesundheitsministerin. Wenn hier eine gesellschaftliche Debatte organsiert werden sollte, dann war die Idee zum Scheitern verurteilt, weil nur eine Seite anwesend sein kann. Wenn es der Ministerin stattdessen (eher im Sinne einer Anhörung) darum ging, sich selbst die Sorgen und Ängste der Menschen zugänglich zu machen, dann hat sie auf diesem Weg nur bestimmte Perspektiven kennengelernt. In beiden Fällen ist das eher schlecht. Aber warum ist das passiert? Das ist passiert, weil man sich in der Vorbereitung dieser Veranstaltungsformate keine Gedanken über Format und Raum gemacht hat. Denn zu einem Präsenzformat auf einem Marktplatz oder einer Gemeindehalle hatte unter diesen Bedingungen nur eine Konfliktpartei Zugang und das waren die Menschen, die das Virus im Schnitt für harmlos hielten. Infektionsängstliche Menschen und damit Menschen, die die gesundheitspolitischen Maßnahmen mitgetragen haben, aber an ihrer konkreten Form vielleicht auch differenzierte Kritik geäußert hätten, waren ausgeschlossen.
Aber noch einmal: Es geht hier nicht um eine Kritik an der gesundheitspolitischen Strategie des sächsischen Sozial- und Gesundheitsministeriums. Es geht vielmehr darum, an einem plastischen Beispiel die Frage zu erörtern, die in diesem Beitrag im Mittelpunkt steht und das ist die Frage nach der Bedeutung der Auswahl von Formaten und Räumen für die Gestaltung von Bildungsprozessen. Natürlich kann man sich trotzdem fragen: Inwiefern kann die Perspektive auf Format und Raum helfen, politische Bildung besser zu machen? Oder anders formuliert: Was passiert, wenn wir in der politischen Bildung statt auf Zielgruppen zu schielen damit beginnen über Räume nachzudenken?
Von Zielgruppen zu Räumen
Wenn wir den Fokus im Rahmen der Konzeptionierung von Bildungsformaten weniger auf die Eigenschaften der Zielgruppe(n), sondern auf den Raum richten, verschiebt sich die Frage nach den Zugangsbarrieren von den Menschen auf die Räume. Das klingt kompliziert – ist aber eigentlich ganz einfach. Denn es ist dann nicht mehr der vermeintlich bildungs-, politik- oder sonst wie ferne Mensch, sondern der unzugängliche Raum, der den Zugang zu den Bildungsangeboten schwer gemacht hat. Die Defizitzuschreibung verschiebt sich und der Blick wird damit frei dafür wahrzunehmen, dass Zugangsbarrieren oft mehrere und gleichzeitig sehr unterschiedliche Menschen oder Menschengruppen betreffen (vgl. Besand/Jugel 2015b).
Was passiert, wenn wir in der politischen Bildung statt auf Zielgruppen zu schielen damit beginnen über Räume nachzudenken?
Aber was ist mit Zugangsbarrieren gemeint? Zugangsbarrieren sind Barrieren, die es Menschen schwer machen, Zugang zu spezifischen Angeboten oder Ressourcen zu finden. Zugangsbarrieren können tatsächlich architektonisch sein. Weil der Raum für bestimmte Menschen nicht erreichbar oder betretbar ist. Am offensichtlichsten ist das bei Rollstuhlfahrer*innen – aber es betrifft – wie wir in unserem Pandemiebeispiel gesehen haben – nicht nur Menschen mit motorischen Einschränkungen. Ein Raum kann schwer erreichbar sein, weil er nicht an öffentliche Verkehrsmittel angeschlossen ist, die Anreise zu teuer oder die Lage unbekannt ist. Er kann unzugänglich erscheinen, weil er sich digital auf Plattformen befindet, die nicht von allen genutzt werden können, oder weil sich Menschen in diesem Raum schlicht nicht sicher fühlen. Es sind aber auch andere Zugangsbarrieren möglich. Sprachliche und kommunikative Barrieren beispielsweise – weil die Sprache, die verwendet wird, nicht zugänglich oder verständlich ist. Das ist sogar eine recht typische Zugangsbarriere im Feld politischer Bildung. Denn das Sprechen über Politik ist nicht selten sehr akademisch und/oder voraussetzungsvoll und schreckt damit viele Menschen ab. Von kommunikativen oder sozialen Zugangsbarrieren würde man sprechen, wenn die Information über die Existenz eines Angebots bestimmte Menschen erst gar nicht erreicht oder sie keinen Menschen kennen, der dieses Angebot an diesem Ort mit ihnen gemeinsam annehmen würde. Zugangsbarrieren können auch kulturell oder ästhetisch strukturiert sein. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat vor vielen Jahren z. B. einmal eine spannende Studie zur ästhetischen Struktur ihrer Tagungsstätten anfertigen lassen und in diesem Rahmen festgestellt, dass diese Räume nur ein ganz bestimmtes gesellschaftliches Milieu ansprechen und sich nur dieses Milieu in diesen Räumen wirklich wohl fühlt (vgl. Flaig 1993). Das kann man jetzt sehr kleinlich und etepetete finden, aber leider wirkt sich auch so etwas aus. Man könnte diese Aufzählung jetzt noch eine ganze Weile fortsetzen. Man könnte über Machtstrukturen sprechen u. Ä. m., aber es geht uns hier nicht im Kern um die Frage nach Zugangsbarrieren und Ausschluss von politischer Bildung, sondern um die Perspektivverschiebung, die gelingt, wenn wir unseren Blick weg von Zielgruppen stärker hin auf Räume richten. Eines der wesentlichen Dinge, die in diesem Zusammenhang passiert sind, ist, dass die Eigenschaften, die den Bildungserfolg gefährden, sich auf der Zuschreibungsebene von den Menschen zu den Räumen verschieben. Das ist für uns – die wir Interesse am Gelingen politischer Bildung haben – eine gute Nachricht, denn die Räume können wir verändern, die Menschen nicht. Wir können und sollten uns also Räume suchen, die für viele Menschen gleichzeitig zugänglich sind, Räume in denen sich soziale Gruppen begegnen. Das passt gut zu uns, denn – wie gesagt – geht es in der politischen Bildung ja niemals nur um eine Perspektive.
Von Inhalten zu Vermittlungsprozessen
Mit der Perspektivverschiebung auf den Raum passiert aber noch etwas Anderes. Denn wenn wir uns im Hinblick auf die Gestaltung von Angeboten zur politischen Bildung mehr Gedanken über den Raum machen, verschiebt sich gleichzeitig auch der Fokus von den Inhalten weg und stärker hin zu den Vermittlungsprozessen. Auch das ist ein komplizierter Gedanke, für den es sich vielleicht lohnt, ein kleines bisschen auszuholen. In einem ersten Schritt könnte man sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, warum der Raum nicht schon lange im Mittelpunkt der Überlegungen zu Vermittlungsfragen politischer Bildung steht. Und eine Antwort auf diese Frage ist sicherlich: Wenn wir Angebote zur politischen Bildung machen, dann denken wir oft zuerst darüber nach, was eigentlich die spannenden Inhalte sind und wer diese Inhalte am besten vermitteln kann. Wir suchen interessante Referent*innen oder Zeitzeug*innen oder Diskutant*innen. Um sie bauen wir das Angebot herum. Der Raum ist uns in diesem Zusammenhang mehr oder weniger egal. Es soll nicht reinregnen. Alle sollen sitzen können. Es soll warm genug sein. Hoffentlich gibt es Kaffee. Es sollen Störungen vermieden werden. Aber das ist schon mehr oder weniger alles, was es im Hinblick auf den Raum zu beachten gilt. Die Bildungsangebote werden um die Sprecher*innen herum gedacht. Wenn es nötig ist, gehen wir mit unseren Bildungsangeboten auch zur Zielgruppe, also z. B. in die Schule, in die Kirche, in den Gemeindesaal. Aber der Raum wird lediglich als das Gefäß verstanden, das Kommunikation oder Präsentation sicherstellen soll.
Wir können und sollten uns Räume suchen, die für viele Menschen gleichzeitig zugänglich sind, Räume in denen sich soziale Gruppen begegnen.
Wenn wir den Raum als Ausgangspunkt des Bildungsprozesses verstehen, verändert oder relativiert sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Position der Sprechenden. Das lässt sich erneut an unserem Beispiel verdeutlichen. In unserem Beispiel haben wir ja festgestellt, dass es unter den Bedingungen der Pandemie nicht sinnvoll gewesen ist, ein Präsenzveranstaltungsformat zu wählen, das alle infektionsängstlichen Menschen ausschließt. Man hätte vielleicht ein digitales Format wählen sollen, aber das hätte vermutlich auch nur eine bestimmte Gruppe, also digital affine Menschen angesprochen. Wenn man – wie angedeutet – wirklich in die Supermärkte gegangen wäre, hätte das Ganze anders aussehen müssen. In der Gemüseabteilung führen wir wahrscheinlich keine Diskussionsveranstaltung durch (auch wenn der Gedanke reizvoll ist). Menschen verbringen im Supermarkt auch keinen Nachmittag. Es geht also um ein deliberatives Format, das die Chance nutzt, dass viele Menschen den Supermarkt betreten, aber nie allzu viele gleichzeitig vor Ort sind. Wir in der John Dewey Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie (JoDDiD) schlagen deshalb Abstimmungsgeräte vor, mit deren Hilfe Menschen zu bestimmten Fragen ihre Meinung ausdrücken können und alle, die nach ihnen kommen, können auf diese Meinungsäußerungen reagieren. In Museen haben Sie solche Installationen möglicherweise schon einmal gesehen. Es geht um sogenannte Partizipativa oder mit anderen Worten um Austauschformate, die in der Lage sind, geduldig in Räumen zu warten, bis sie tatsächlich angenommen werden. Wenn Sie das einmal ausprobieren wollen, können Sie in der Forschungsstelle sogenannte Abstimmungsmaschinen ausleihen, die sich in unterschiedlichen Räumen aufstellen lassen und mit denen Menschen dort vor Ort kommunizieren können. Das klingt jetzt komplizierter als es ist – am besten schauen Sie sich das auf unserer Internetseite einmal an (https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/joddid).
Beispiel 2: Politische Bildung in der Hundeschule
Ich kann das aber etwas konventioneller an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. Im Sommer 2021 haben wir in der JoDDiD in diesem Sinne ein Angebot zur politischen Bildung in einer Hundeschule platziert. In Hundeschulen treffen sich ganz unterschiedliche Menschen und trainieren mit ihren (oft noch etwas unerzogenen) Hunden Alltagssituationen. Eine solche Alltagssituation besteht zum Beispiel darin, dass mehrere Menschen mit mehreren Menschen zusammen in der Gegend herumstehen und sich unterhalten. Die Hunde haben dabei ruhig zu sein. Die Menschen können sprechen über was auch immer sie möchten. In unserem Fall waren das nicht selten die politischen Bewältigungsstrategien der Corona-Krise, Pro und Contra Impfpflicht, die politische Begründbarkeit der Einschränkung von Freiheitsrechten usw. Sie können sich das wahrscheinlich vorstellen. Die Chance in diesem Format liegt in der Zufälligkeit der Gruppenzusammensetzung und der Bindung, die die Menschen in der Gruppe bereits entwickelt haben. Man kennt sich und mag sich, denn alle kümmern sich nett um ihre Hunde – politisch ist man unter Umständen aber weit auseinander. Das war ein wunderbares Format. Aber es verlangt Geduld und die Bereitschaft zum Kontrollverlust wie Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, sagen würde (vgl. Krüger 2015). Wir haben in solchen Formaten nicht alles in der Hand. Sie lassen sich sehr viel schlechter planen – im Sinne einer ernstgenommenen Didaktik der Demokratie sind sie aber ungeheuer spannend.
Wenn wir den Raum als Ausgangspunkt des Bildungsprozesses verstehen, verändert oder relativiert sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Position der Sprechenden.
Ein weiteres Instrument, das wir in der JoDDiD für raumbezogene politische Bildung entwickelt haben, ist die Gerüchteküche. Die Gerüchteküche ist im Kern eine kleine fahrbare Küche, mit deren Hilfe sich Kaffee oder Würstchen oder auch coole Getränke an x-beliebigen Orten bereitstellen lassen. Ihr Name deutet ihre Funktion schon an – es geht im Kontext der Gerüchteküche nämlich darum, über Verschwörungserzählungen ins Gespräch zu kommen. Auch an diesem Beispiel lässt sich erkennen, dass wir dafür werben wollen, sich mit Angeboten zur politischen Bildung nicht in einem abgelegenen Tagungs- oder Veranstaltungsort zurückzuziehen und darauf zu warten, wer das Angebot aufsucht, sondern mit Bildungsangeboten oder -impulsen dahin zu gehen, wo die Debatten sowieso stattfinden.
Ich belasse es bei diesen Beispielen. Sie sind nur zur Illustration gedacht und sollen Ihre Phantasie anregen, über politische Bildung aufs Neue in veränderter Weise nachzudenken. Es ist auch nicht so, dass es so etwas noch nicht gibt. In der Sozialen Arbeit lassen sich vergleichbare Ideen in den Konzepten des Sozialraumansatzes entdecken (vgl. Braun 2004). Im Kontext des Sozialraumansatzes geht es darum, über die herkömmlichen Einzelfallhilfen hinauszugehen, eine bevormundende Pädagogisierung zu überwinden und stattdessen Lebenswelten so zu gestalten oder Verhältnisse zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, in schwierigen Lebenslagen besser zurechtzukommen. Es handelt sich – wie Sie leicht erkennen können – um einen disziplinübergreifenden Ansatz, der psychologisches und pädagogisches Wissen aus der Fallarbeit mit soziologischem und ökonomischem Organisationsentwicklungswissen kombiniert. Anregend können auch szenographische oder museale Ansätzen sein, die sich damit auseinandersetzen, wie Menschen in oder auch jenseits von Museen oder Ausstellungen miteinander oder mit einer bestimmten Frage interagieren können (vgl. Gessner et al. 2012). Eine letzte Quelle der Inspiration könnten Sie vielleicht auch in reggiopädagogischen Ansätzen finden, in denen der Raum als dritter Erzieher verstanden wird (vgl. Lingenauber 2008). Das hat in seiner ursprünglichen Form nichts mit politischer Bildung zu tun, aber mit einer demokratischen Pädagogik, die für schulische und vorschulische Arbeit einmal sehr impulsgebend gewesen, dann aber weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
Zur Autorin
anja.besand@tu-dresden.de