Außerschulische Bildung 3/2022

Von Zielgruppen zu Formaten und Räumen

Oder: Warum wir in der politischen Bildung nicht so sehr auf Zielgruppen fixiert sein sollten.

Lange galt der Zielgruppenansatz in der politischen Bildung als DIE Lösung, um die politische Bildung inklusiver zu machen. Aber ist das tatsächlich eine gute Idee? Ist es nicht vielleicht sogar möglich, dass das Nachdenken über Zielgruppen schädlich ist? Dieser Beitrag geht dieser Frage intensiv nach und schlägt vor, von der Idee diverser zielgruppenspezifischer Spezialdidaktiken wegzukommen. Statt über Zielgruppe(n) nachzudenken sollte die Aufmerksamkeit lieber auf den Raum gerichtet werden. Denn nur so verschiebt sich die Frage nach den Zugangsbarrieren von den Menschen auf die Räume, der Fokus von den Inhalten hin zu den Vermittlungsprozessen. von Anja Besand

Wenn wir an politische Bildung denken, dann denken wir an ein Angebot, das Menschen stärken soll, sich im komplexen Feld politischer Fragen selbstbestimmt zu orientieren (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2016). Es geht um die Stärkung politischer Urteilsfähigkeit und politischer Handlungsfähigkeit, um Mündigkeit, Teilhabe und Selbstbestimmung. So weit, so unstrittig. Aber das sind natürlich große Ziele, die in der täglichen Arbeit oft heruntergebrochen werden. Je nach Perspektive steht dann auch mal die Stärkung von politischem Interesse, die Förderung der Bereitschaft von Partizipation oder auch der Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten im Vordergrund (vgl. Besand 2009). Aber politische Bildung ist ein besonderer Bildungsbereich, deshalb macht es an dieser Stelle vielleicht auch Sinn darüber nachzudenken, um was es uns nicht geht. In der politischen Bildung (und zwar sowohl schulisch als auch außerschulisch) geht es nicht um eine wie auch immer geartete Propädeutik. Zumindest wenn wir Propädeutik verstehen als eine Bildung, die auf ein wissenschaftliches Studium eines bestimmten Faches oder Subjektes vorbereitet. Wir brauchen politische Bildung nicht nur für zukünftige Politik- oder Sozialwissenschaftler*innen. Politische Bildung versteht sich auch nicht als Elitenbildung. Es geht hier nicht um die Ausbildung von politischen Amts- oder Entscheidungsträger*innen. Es geht vielmehr um die Grundlage und Ermöglichung politischer Mitgestaltung von allen Menschen (vgl. Jugel et al. 2020). Wir sagen allen Menschen und nicht allen Bürger*innen, denn politische Bildung ist auch nicht den Staatsbürger*innen vorbehalten und vermittelt deshalb auch nicht alleine die Fähigkeit oder Bereitschaft, die nötig ist um eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen (vgl. Salomon 2012, S. 75). So wie es in der Politik in letzter Konsequenz um die Frage geht, wie wir zusammen leben wollen, geht es in der politischen Bildung um die Förderung der Fähigkeiten, die nötig sind, sich über diese Frage – also wie wir zusammen leben wollen – (gewaltfrei) zu verständigen (vgl. Besand 2018). Das ist eigentlich auch kein wirklich neuer Gedanke. Denn die Ermöglichung politischer Teilhabe für alle bildet von jeher den Ausgangspunkt politischer Bildung (vgl. Jugel et al. 2020).

Zu der Frage, ob und inwiefern die politische Bildung diesem Anspruch gerecht wird, wurde in den vergangenen Jahren sehr viel diskutiert (vgl. Besand 2017; Hölzel/Jahr 2019; Jugel et al. 2020) und sie ist tatsächlich überaus bedeutungsvoll. Denn die Herausforderung, vor der wir in der politischen Bildung und zwar insbesondere in der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenbildung stehen, besteht im Wesentlichen darin, dass wir auf Freiwilligkeit angewiesen sind. Oder, um es noch direkter zu formulieren, in der politischen Bildung ist es uns über lange Zeit im Rahmen von Bildungsangeboten nicht gelungen Menschen zu erreichen, die nicht bereits von sich aus an politischen Fragen interessiert gewesen wären. Für dieses Problem gibt es viele Beschreibungen. Wir bekehren nur die Bekehrten, sagen manche in diesem Zusammengang. Wir tragen Eulen nach Athen, ist ein anderer passender Sinnspruch. Im Englischen sagt man sinngemäß auch, wir tragen Sand an den Strand. Und das wollen wir nicht – das will niemand – dazu ist das Ganze zu viel Arbeit und kostet zu viel Geld. Aber wie lassen sich Menschen erschließen, die nicht bereits vorab an Politik interessiert sind? Der Zielgruppenansatz versprach eine Lösung (vgl. Besand/Jugel 2015b). Wir entwickeln spezifische Angebote für bislang noch wenig erreichte Zielgruppen. Eigentlich eine gute Idee: Politische Bildung für „politisch Verdrossene“, „Politische Bildung für politikferne Gruppen“, „Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“ „Orientierungskurs für zugewanderte Menschen“ oder „Politische Bildung im ländlichen Raum“. Das alles sind Überschriften und Begriffe, unter denen die entsprechenden Debatten zusammengefasst werden können (vgl. Besand/Jugel 2015a). Gemeinsam haben diese Debatten, dass sie oft von defizitorientierten Zielgruppenbeschreibungen ausgehen, die sich empirisch nur sehr schwer nachvollziehen lassen. Denn man kann sich ja schon fragen: Welche besondere politische Bildung brauchen Menschen jenseits der urbanen Zentren? Brauchen Frauen eine andere politische Bildung als Männer, Zis-Menschen eine andere als Queere? Wie sieht es mit den Menschen im Osten aus, brauchen auch die eine andere politische Bildung als die im Westen? So, wie ich die Frage hier formuliere, hören Sie schon heraus, dass ich dazu neige, diese Fragen alle mit NEIN zu beantworten. Aber ich bitte Sie, wirklich selbst einmal über diese Frage nachzudenken. Und damit wären wir dann auch automatisch bei unserer nächsten Frage:

Brauchen wir in der politischen Bildung lauter zielgruppenspezifische Spezialdidaktiken?