Außerschulische Bildung 1/2020

Was heißt und wie begründet man Solidarität?

Plädoyer für den sparsamen Umgang mit einem (zu) häufig verwendeten Begriff

Der Begriff „Solidarität“ ist machtvoll und unscharf zugleich. So kann er als ein – schmerzhafte Opfer einfordernder und emotionalen Druck erzeugender – Anspruch auftreten, er kann aber auch nicht mehr verlangen als die normalen Leistungen ethisch-moralischer Zuwendung. Dabei steht er häufig in ungeklärtem Verhältnis zum Begriff und zur Idee der Gerechtigkeit. Um einen tragfähigen Boden für die weiteren Überlegungen zu haben, wird von der Annahme ausgegangen, dass „Solidarität“ als ein Konzept ausdrücklicher und abgrenzbarer Gemeinschaftlichkeit zu verstehen ist; also nicht universalistisch und nicht primär ethisch-moralisch, sondern vor allem in Hinsicht auf die Interessen begrenzter Gruppen. von Georg Kohler

Solidarität als Element begrenzter Gemeinschaftlichkeit

Solidarisch sind und handeln wir normalerweise im Kontext einer besonderen Zusammengehörigkeit. Das solidarische „Wir“ bedeutet dann viel mehr als eine abstrakte Allgemeinheit. Es ist nicht Ergebnis irgendeiner (gesellschaftstheoretischen oder staatsrechtlichen) Verallgemeinerung wie das die Staatsangehörigkeit oder die individuelle Gemeinsamkeit einer soziologisch relevanten Eigenschaft (Einkommensgröße, Klasse, Bildungsgrad etc.) sind. Zur Wirklichkeit von Solidarität gehört immer die emotionale Bindung an den Bestand sowohl der Gruppe als solcher als auch an das Wohlergehen derjenigen, die ihr angehören.

Solidarität entsteht nicht ohne Grund als Element eingeschränkter, partikulärer Wir-Einheiten. Sozialpsychologisch einleuchtend konstatiert das etwa Richard Rorty: „Unser Solidaritätsgefühl (ist) am stärksten, wenn die, mit denen wir uns solidarisch erklären, zu ‚uns’ gehören und ‚Wir’ etwas enger Begrenztes als die Menschenrasse ist. Das kommt daher, dass die Begründung ,weil sie/er ein Mensch ist’ eine schwache, nicht überzeugende Erklärung für eine großzügige Handlung liefert.“ (Rorty 1989, S. 308) Genau das ist aber anders, wenn jemand eben „einer/eine von uns“ ist, weil sie/er „zur Familie“ gehört oder zum „Stamm“ oder (und immer noch) zu jener fiktiven Abstammungsgemeinschaft, die sich seit bald 200 Jahren „Nation“ nennt.

Das dezidiert nicht-universalistische, auf eine gegebene und begrenzte Gemeinschaft bezogene Verständnis von Solidarität, das sich beispielsweise von der christlichen, menschheitsbezogenen Fürsorglichkeit, aber auch von der Vorstellung einer unbedingt geforderten Achtung vor der Würde des einzelnen Menschen unterscheidet, ist nicht unbestritten. Für einen weiten Solidaritätsbegriff vgl. u. a. Zoll 2000; für die Vielfalt von Solidaritätsbegriffen vgl. Boshammer 2007. Wer dieses Verständnis vertritt, wird dadurch allerdings nicht gleich zum Anhänger eines auf Gegensätze erpichten Solidaritätsmodells. Gegnerschaftsorientierung ist freilich häufig ein Aspekt machtvoller Solidaritätskonzepte: Wer zur Solidarität mit den „Ausgebeuteten“, den „Jungen“ (gegen die „Alten“) oder mit den „Heimatbewussten“ (gegen die „Heimatmüden“) etc. aufruft, hat immer jene andere Seite im Blick, die nicht selten zur bedrohlichen und entsprechend zu behandelnden Gefahr wird.

Zur Wirklichkeit von Solidarität gehört immer die emotionale Bindung an den Bestand sowohl der Gruppe als solcher als auch an das Wohlergehen derjenigen, die ihr angehören.

Von Otfried Höffe stammt eine hinreichend differenzierte Definition des Begriffs der Solidarität, die beides erlaubt – sowohl den Einsatz einer begrenzungssensiblen Solidaritätsidee wie Solidaritätsforderungen, die nicht von vornherein ethnizistisch-chauvinistisch und/oder bellizistisch zu verstehen sind: „Solidarität bezeichnet (1) eine Haftung: die wechselseitige Verpflichtung (…), (2) in Gefahr und bei Notlagen, (3) innerhalb von Gruppen, die teils unfreiwillig (…), teils durch freie Wahl (…), teils durch ein zufälliges Schicksal eng mit einem verbunden sind. Solidargemeinschaften sind Not- und Gefahrengemeinschaften, auf die das Bild ‚Man sitzt im selben Boot’ zutrifft, und deren Mitglieder emotionale Bindungen zueinander entwickeln, die umso stärker ausfallen, je emphatischer das Phänomen der Schicksalsgemeinschaft ausfällt.“ (Höffe 1999, S. 90)

Aspekte des Solidaritätsbegriffs

Aus dem Blickwinkel der Not- und Schicksalsgemeinschaft sind Begründung und Erklärung solidarisch-gemeinschaftlicher Motivlagen nicht schwierig. Die Bereitschaft zu solidarischem Verhalten erscheint in dieser Perspektive als leicht nachvollziehbare Einstellung aus rationalem Eigennutz. Denn es liegt offensichtlich im langfristig berechenbaren Chancenplus der Mitglieder einer Not- und/oder Schicksalsgemeinschaft, dass (erstens) die Gruppenlasten und -vorteile und (zweitens) die zufällig entstehenden besonderen Nachteile solidarisch – alle für einen und, wenn nötig, einer für alle – aufgefangen werden. Dafür sprechen das Wahrscheinlichkeitskalkül und ebenso das Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit im Rahmen einer sozialen Gruppe.

Allerdings gehört zur so verstandenen Solidarität auch das Interesse, allfällige Trittbrettfahrer als solche zu erkennen und entsprechend zu sanktionieren. Solidarität-aus-rationalem-Selbstinteresse (oder auch bloß aus dem Wunsch nach kollektiver Geborgenheit) besitzt die wenig menschenfreundliche Tendenz zur Überwachung und Bestrafung unbotmäßiger Dissidenz. Das ist die Kehrseite einer nicht mehr rein schuldrechtlich definierten (vgl. Höffe 1999) Solidaritätsidee, die – begriffshistorisch gesehen – im 19. Jahrhundert das Erbe der enthusiastischen fraternité, der Farbe Rot aus der Trikolore – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, angetreten hat.

Alle für einen und, wenn nötig, einer für alle? Foto: Jon Tyson/unsplash.com

„Solidarität“ ist nicht zuletzt wegen dieser semantischen Verwandtschaft ein spezifischer moderner Terminus, der erst nach 1789 seine heute geltenden Konturen erhalten hat. Allerdings verwendet einer der Väter des soziologischen Solidaritätsdiskurses, Emile Durkheim, den Begriff in charakteristischer Doppelung; er unterscheidet eine spezifisch moderne – „organische“ – Solidarität von ihrer vormodernen – „mechanischen“ – Form. Im heutigen Verständnis wird Solidarität im Allgemeinen stets nach dem Muster der organischen Solidarität aufgefasst.

In vormodern-hierarchischen Gesellschaften schaffen feudale Rang- und Legitimationsordnungen so klare Verbindlichkeiten und Verpflichtungsverhältnisse, dass die herrschende Ungleichheit zwischen den Ständen eine übergreifende „Brüderlichkeit“ von vornherein ausschließt; innerhalb eines Standes aber eine besondere solidarische Identifikation mit der eigenen Gruppe – außer in Situationen riskanter Unternehmungen – zu bilden, erscheint überflüssig, sie ist weder nötig noch überhaupt empfehlenswert.

Das spezifisch moralische Problem, mit dem partikularistische, intern rational, normalerweise aber auch gefühlsmäßig über eine In/Out-Differenz integrierte Wir-Gruppen konfrontiert sind, ist die Figur des Anderen, des Fremden und Auswärtigen.

Das spezifisch moralische Problem, mit dem partikularistische, intern rational, normalerweise aber auch gefühlsmäßig über eine In/Out-Differenz integrierte Wir-Gruppen konfrontiert sind, ist die Figur des Anderen, des Fremden und Auswärtigen. Er muss zwar nicht schon ein „Feind“ sein, ganz sicher aber ist er/sie niemand aus der „Familie“ (im weiten Sinn). Fraternité umfasst outsider nicht, weshalb sie auf deren Schutz und Hilfe keinen Anspruch haben.

Mithin gilt, dass die partikularistisch definierte und begründete Solidarität einer bestimmten Wir-Gruppe ihrem Verpflichtungscharakter nach sehr genau zu unterscheiden ist von Hilfepflichten, die sich aus Gerechtigkeitsansprüchen oder aus einer universalisierten – zum Beispiel christlichen – Menschenliebe ergeben.

Dazu noch einmal Otfried Höffe: „Ist die Not (die zu lindern ist) von anderen verschuldet, so müssen diese schon aus Gerechtigkeitsgründen helfen. Ist die Not aber allein selbstverschuldet, so ist die nötige Hilfe ein Gebot der Menschliebe.“ (Höffe 1999, S. 90) Im Weiteren zeigt Höffe, wie sich der Solidaritätsbegriff – gemäß dem Muster „Man sitzt im selben Boot“ – politisch folgenreich ausdehnt: „Solidarität ist dort geboten, wo die Alternative Fremd- oder aber Selbstverschulden nicht zutrifft und man auch von Schicksal sprechen kann. Wenn sich beispielsweise – sei es vorübergehend, sei es auf Dauer – die Rahmenbedingungen für eine Gruppe so stark ändern, dass die übliche Vorsorgefähigkeit der Menschen überfordert wird, dann sitzt man schicksalshaft ‚im selben Boot’ und die Hilfe auf Gegenseitigkeit für Notlagen, eben Solidarität, ist angezeigt.“ (Ebd.) Begriffsgeschichtlich betrachtet ist das Wort „Solidarität“ aus dem römischen Recht abgeleitet, nämlich aus der sehr rigiden Haftung einer „obligatio in solidum“. Diese Haftung gilt in einer Gruppe, etwa in einer Familie, wenn jedes Mitglied für alle die Gruppe betreffenden Schulden in die Pflicht genommen werden kann; was umgekehrt heißt, dass die Gruppe automatisch für die Schulden jedes einzelnen haftet. Auch im heutigen Recht findet sich noch die Regelung der „Solidarobligation“, die in etwa dem römischen Modell entspricht.

Die Pointe dieser Änderung besteht allerdings in einer für die zeitgenössische Sozialstaatlichkeit charakteristischen Unterschiedlichkeit der Chance, von der Solidaritätsgemeinschaft zu profitieren. Die leichte Verschiebung zwischen der Idee einer relativ engen, von vornherein zur Solidarität disponierten Wir-Gruppe und jener Solidarität, die „Wir“ gegenüber denen hegen, die zwar auch zu „uns“ gehören, aber nun in einer Notlage sind, die mit höchster Wahrscheinlichkeit nie die unsrige sein muss, lässt sich verdeutlichen, wenn man sich das gemeinsame Boot groß genug vorstellt: als Schiff mit Passagieren erster und zweiter Klasse. Während die ersteren noch lange nicht Not leiden, sind die letzteren schon mittendrin.

Diese Differenz sollte man im Auge behalten, wenn – wie sehr oft – die aktuellen nationalstaatlichen Sozialstaatskonstruktionen aus der Solidaritätsidee abgeleitet werden. Das gemeinsame Boot qua Nationalstaat fährt gewiss besser, wenn auf ihm kein Aufruhr herrscht und die Wohlhabenden sich um anständige Lebensbedingungen der Schlechtergestellten kümmern – insofern also dem Gedanken der Solidarität aus der Erfahrung gemeinsamer Ausgesetztheit in einem letztlich übermächtigen Meer Rechnung tragen. Doch zugleich ist die strenge Symmetrie, die das ursprüngliche Solidaritätsmodell kennzeichnet, nicht mehr gegeben.

Deshalb notiert Höffe den Bedeutungswandel, wenn Solidarität als Basis sozialstaatlicher Legitimität und ihrer Forderungen an die Bessergestellten beansprucht wird: „Der (für Solidaritätsansprüche fundamentale) Grundgedanke der gegenseitigen Hilfe weckt (…) Bedenken gegen die Praxis, selbst dort noch von Solidarität zu sprechen, wo die Stärkeren für die Schwächeren eintreten sollen, obwohl sie, weil deutlich und auf Dauer überlegen, in den Genuss einer Gegenleistung kaum je geraten. Hier wird die Solidarität in Richtung auf Menschenliebe gedehnt, sogar überdehnt.“ (Ebd., S. 91)

Warum helfen?

Am Beispiel der Sozialstaatslegitimation lässt sich verdeutlichen, dass der Rekurs auf „Solidarität“ kein Allzweckmittel zur Rechtfertigung für Bedürfnisse jeglicher Art ist. Daraus folgt nicht, dass Sozialstaatsaufgaben bzw. -forderungen nicht gut begründet sein könnten. Es verlangt aber in den entsprechenden Fällen mit der passenden Argumentation zu operieren. So haben sozialstaatliche Maßnahmen oft auch und zu Recht den Sinn, allzu große Ungleichheiten zwischen Bevölkerungsgruppen auszugleichen. Offensichtliche Egalisierungspolitiken sollten jedoch nicht als Solidaritätspostulate beschrieben werden.

„Zur Wirklichkeit von Solidarität gehört immer die emotionale Bindung an den Bestand sowohl der Gruppe als solcher als auch an das Wohlergehen derjenigen, die ihr angehören.“ Foto: Chris Slupski/unsplash.com

So oder so: All dies, was im Horizont der einzelstaatlichen, nationalen Gemeinsamkeit als Solidarleistung noch plausibel zu beschreiben ist, passt für andere, politische umfassendere Bereiche nicht mehr gut. Ansprüche, die das Thema der „globalen Gerechtigkeit“ betreffen, sind anders zu rechtfertigen als die spezifischen Sozialstaatspflichten im Rahmen eines Nationalstaates. Was natürlich nicht bedeutet, dass solche Ansprüche überhaupt nicht zu begründen wären.

Einen Versuch zur Begründung einer übernationalen globalen Hilfspflicht hat – mit großem öffentlichem Nachhall – vor einiger Zeit der australische Philosoph Peter Singer vorgelegt (vgl. Singer 2017). Da dieser Vorschlag ebenso interessant wie buchstäblich frag-würdig ist, möchte ich ihn genauer diskutieren:

Singer erinnert an unsere Spontanreaktion, wenn wir Zeuge eines Unglücks werden. Ein Kind ist in den Fluss gefallen. Wir beobachten es und sind nah genug, um helfen zu können; was wir zweifellos tun werden. Selbst wenn Kleider dabei kaputtgehen und wir einen wichtigen Termin verpassen. Wer sich anders verhält, bekommt es mit unserer Empörung zu tun. Und nicht nur das: Er wird strafrechtlich belangbar, gemäß der Norm, die ihn wegen „unterlassener Hilfeleistung“ zur Rechenschaft zieht.

Nun variiert Singer die Situation: An die Stelle des beschriebenen Geschehens tritt eine generelle Vorstellung, die den globalen Sachverhalt verbildlicht. Ein irgendwo hungerndes Kind ersetzt das ertrinkende. Freilich ist es Tausende von Kilometern von uns entfernt – vielleicht in Afrika oder in einem Slum von Kalkutta. Zu dieser Idee fügt Singer die Annahme hinzu, dass wir trotz der Distanz wirksam helfen könnten; mit eher geringen Nachteilen für uns: durch eine lebensrettende Geldzahlung, von der Singer im Gedankenexperiment voraussetzt, dass sie mit Hilfe funktionierender Institutionen das Kind mit Nahrung versorgt, unser verfügbares Einkommen aber höchstens um zehn Prozent kürzt.

Sind wir auch jetzt noch spontan zum persönlichen Einsatz bereit? Nötigt uns ein starkes Gefühl der „Solidarität mit den Armen der Welt“ dazu?

„Menschenliebe“ bezeichnet eine herausragende Charakterqualität, keine Eigenschaft, der genügen muss, wer nicht als moralisch schäbig oder gar als verwerflich gelten will.

Singer vermutet, dass es nicht so sein wird. Wobei, wie gesagt, die pragmatische Basis seines Vergleichs – effektive, bestehende Hilfsorganisationen – nicht das Thema sind, sondern unsere, der Distanz geschuldete Untätigkeit. Sie ist für ihn Grund für eine sozusagen analoge Empörung: Das ertrinkende Kind vor unseren Augen und das verhungernde fordern doch gleichermaßen ein Engagement (das uns im Übrigen in beiden Fällen nicht übermäßig beansprucht).

Können wir Singer vorbehaltlos zustimmen? Ich denke nicht, denn auch wer bereit ist, Singers pragmatische Bedingung – tatsächlich vorhandene Transferinstitutionen – anzuerkennen, hat Mühe, ihm sonst und ohne weiteres Recht zu geben. Und zwar nicht im Hinblick auf die moralische und vernünftige Einsicht in die prinzipielle Notwendigkeit von Hungerhilfe, aber im Blick auf die Veranlassung – den emotional spürbaren inneren Druck –, sie zu erbringen. Während wir beim Kind, das direkt vor uns um sein Leben kämpft, unmittelbar betroffen sind, ist das beim irgendwo verhungernden nicht mehr so. Wir sind zu weit weg, um seine Not leibhaft zu erleben; seinem Elend können wir ohne größere Schuldgefühle ziemlich leicht ausweichen.

Was folgt aus dieser Feststellung, die zwar keine moralische Erleichterung erlaubt, dennoch erklärt, wieso Peter Singers Vergleicht nicht wirklich zutrifft?

Zunächst folgt daraus die Einsicht, dass effektive Solidaritätsimpulse nicht einfach dasselbe sind wie moralisch gerechtfertigte Aussagen. Denn in der Tat dürfen beide Kinder moralisch gerechtfertigte Ansprüche auf unsere Zuwendung erheben. Offensichtlich aber bleiben Nähe und Distanz trotz allem wesentlich, wenn wir die Sorge um unser eigenes Wohl zugunsten anderer ein Stück weit einschränken sollten.

Darauf kann man, wie das der Philosoph Singer tut, entgegnen, dass nicht Gefühle, Emotionen und unmittelbare Erfahrungen unsere Handlungen leiten dürfen, sondern allein die Logik moralischer Grundsätze. Wenn gelte, dass man, wo immer es möglich ist, Notleidenden helfen müsse, dann verlange das die entsprechende Reaktion, unabhängig davon, wie nah oder fern die Hilfebedürftigen seien.

Das kann man akzeptieren, doch dieses Argument begründet nicht, dass Pflichten und Forderungen eigentliche Solidarleistungen sind, denn das Kind in Kalkutta trifft sein Unglück eben nicht innerhalb einer Gemeinschaft, die – mehr oder weniger strikt – als Not- und Schicksalsgemeinschaft zu begreifen wäre. Das Recht des Kindes auf unsere Hilfe gründet in der Goldenen Regel „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu“, im Fundamentalgebot, das für jedes menschliche Tun gilt.

Die Goldene Regel

Damit darf zufrieden sein, wer ohnehin von Helferwillen erfüllt ist. Für argumentativ weniger Bescheidene bleiben Fragen offen: einerseits nach dem Verhältnis zwischen der Goldenen Regel und dem, was Otfried Höffe als „Menschenliebe“ und als „ausgleichende Gerechtigkeit“ ins Spiel gebracht hat, andererseits das Problem, ob die zur globalen (Quasi)Solidaritätspflicht ausgeweitete Goldene Regel nicht sehr bald zur moralischen Überforderung gegebener persönlicher und kollektiver Kapazitäten führt. Lassen sich moralisch einleuchtende Grenzen für universelle menschliche Helferpflichten benennen?

Unbestreitbar gilt jedenfalls, dass Menschenliebe nicht dasselbe ist, wie das Gebot, den Mitmenschen nicht schlechter zu behandeln als man selber behandelt werden möchte. Denn bei der Menschenliebe sind moralische Verdienste und humanitäre Überschüsse wirksam, die man nicht von jedem und jeder erwarten darf. „Menschenliebe“ bezeichnet eine herausragende Charakterqualität, keine Eigenschaft, der genügen muss, wer nicht als moralisch schäbig oder gar als verwerflich gelten will.

Ebenso sind Gerechtigkeitsargumente weder mit Solidaritäts- noch mit universalen Menschenpflichten zu verwechseln (obschon genau das nicht selten im Zusammenhang – und oft sehr suggestiv – mit Postulaten der Entwicklungspolitik gemacht wird), denn die sie stützenden Ausbeutungs- und Kolonialismustheorien operieren insgesamt zu pauschal, um umfassende Ausgleichsschulden belastbar zu beweisen.

Die Frage nach der Grenze der Goldenen Regel im Kontext universaler Hilfepflichten – zum Beispiel bei der Bekämpfung von Weltarmut – ist damit aber noch längst nicht beantwortet. Das wird erst dann möglich, wenn der Sinn dieser ethisch-moralischen Grundregel genauer erfasst ist. – Was verlangt sie zu tun? Und was nicht?

Zuallererst verlangt sie nicht mehr und nicht weniger, als ein Urteil über sein eigenes Handeln zu fällen: Würde ich das, was ich gegenüber X zu tun bereit bin, als angemessen akzeptieren, wenn ich an dessen Stelle wäre? Die Goldene Regel formuliert einen Maßstab; ein Kriterium der Selbstkontrolle hinsichtlich der eigenen moralischen Integrität – und damit auch eine rote Linie möglichen Verhaltens, die nicht verletzt werden darf.

Die Goldene Regel ist, so interpretiert, also alles andere als ein Maximalpostulat; sie will nichts, was die Kräfte eines durchschnittlichen Menschen prinzipiell überfordert.

Ich kann ja auch selbst nicht von den anderen ohne weiteres erwarten, dass sie für mein Wohl ihr eigenes opfern. Zu derartigem Tun bin ich normalerweise nicht und nur im Ausnahmefall bereit. Wer sein persönliches Handeln gemäß der Goldenen Regel beurteilt und lenkt, muss sich in jedem Fall also der konkreten Situation zuwenden, jenen Umständen, die sich immer nur empirisch und im Einzelnen feststellen lassen: „Er muss sich überlegen, womit er angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel (…) in der gegenwärtigen Lage erfolgsversprechend helfen kann. Zu diesen empirisch-pragmatischen Überlegungen gehört dann auch die Frage, (…) wie weit man den Aufwand treiben darf, ohne andere Verpflichtungen zu vernachlässigen oder selbst bedürftig zu werden.“ (Höffe 1979, S.101) Das Zitat bezieht sich explizit auf Kants kategorischen Imperativ. Aber weil dieser, nach Kants eigenem Verständnis, nichts anderes als die philosophische Klärung der auch dem Alltagsverstand vertrauten Grundregel sein will, kann man das, was Kant vom kategorischen Imperativ sagt, auf die Goldene Regel übertragen.

Die moralische Grundregel „Was du nicht willst, …“ formuliert Anforderungsgrenzen, die vom common sense ohne großes Nachdenken verstanden werden; Regeln, die nach Balancen zwischen „meinen“ und „deinen“ Ansprüchen, d. h. nach der Verhältnismäßigkeit zwischen Leistungsaufgabe und -fähigkeit im jeweiligen empirisch-konkreten Zusammenhang verlangen und so vor moralischer Überforderung schützen. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Goldene Regel primär die ethisch-moralisch verwerflichen Handlungen markiert und nicht die besonders guten Absichten und Taten auszeichnen will. (Was sich übrigens ebenso – und nicht zufällig, vgl. Fußnote. 4 – vom kategorischen Imperativ Kants sagen lässt.)

Die Goldene Regel als Kriterium dessen, was alter ego zu Recht von ego erwarten darf, ist kein abstraktes Prinzip, das wirklichkeitsfremde Forderungen erzeugt, sondern ein Verfahren für die Formulierung verbindlicher Pflichten, das sich auf empirisch-pragmatische Analysen der Sachlage stützt. Das bedeutet für das Beispiel, von dem wir ausgegangen sind – Peter Singers Analogieschluss vom Kind-im-Fluss auf erhebliche persönliche, aber moralisch notwendige Anstrengungen im Kampf gegen die Weltarmut –, dass es und er nicht von zwar wünschenswerten, jedoch realitätsfernen Voraussetzungen abhängen darf. Was allerdings der Fall ist.

Denn Singers ausdrückliche Bedingung, dass es weltweit funktionierende Institutionen gibt, die genau so zuverlässig in eine schlimme Situation eingreifen können, wie es ein gesunder (und wohl auch schwimmfähiger) Mensch angesichts eines ertrinkenden Kindes zu tun vermag, ist – leider – eine Fiktion. Solche Einrichtungen gibt es nicht. Im Gegenteil: In Gegenden, in denen verbreitet hohe Kindersterblichkeit und Armut herrschen, regieren nur allzu oft korrupte Machthaber, die erhaltene Hilfsgelder veruntreuen und die vorhandenen Reichtümer ihrer Länder für ihre eigenen Interessen ausplündern.

Singer fingiert eine Welt und international effektive Einrichtungen, die nicht – vielleicht noch nicht – vorhanden sind. Das ist unbestreitbar; nur ist die Sache damit nicht erledigt.

Aus dem Gesagten darf man zwar schließen, dass im Weltmaßstab auch dann nicht von Solidaritätspflichten gesprochen werden sollte, wenn man vom (nochmals erweiterten) Solidaritätsbegriff ausgeht, der die zur Normativität gewordene Sozialstaatlichkeit der europäischen Länder zum Vorbild hat. Denn trotz UNO und vielen anderen global tätigen Organisationen existiert weltweit keine mit nationalen Sozialstaatseinrichtungen vergleichbare Institution. Aber das ist – und zwar gerade im Horizont der Goldenen Regel – nicht das letzte Wort zum Thema.

Sich an der Stelle der anderen denken

Die Goldene Regel ist Kriterium unabdingbarer ethisch-moralischer Ansprüche. Doch das vermag sie nur zu sein, indem sie zugleich – und immer, wo es um die anderen, die Mit-Menschen geht – darauf beharrt, dass eine Perspektivenübernahme geschieht: Würde ich das, was ich gegenüber X zu tun bereit bin, als angemessen akzeptieren, wenn ich selbst an dessen Stelle wäre …? Sich an die Stelle des anderen zu versetzen ist klarerweise eine Bedingung der beschriebenen Kriteriumsfunktion – und sie ist eine – oder besser: die – elementare Operation menschlicher Verständigung überhaupt.

Zugleich mit ihr sind stets und unmittelbar zwischenmenschliche Normen gesetzt, die zwar verletzt, aber niemals als solche eliminiert werden können. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen, denn das Gesagte eröffnet sogleich ein breites Feld tiefreichender Probleme der menschlichen Sozialnatur. Wenn man will, lässt sich auch die Habermasianische Diskursethik und seine Theorie des kommunikativen Handelns auf die Idee der (fairen) Perspektivenübernahme beziehen. Bei näherem Überlegen sollte allerdings bald deutlich werden, was eine Perspektivenübernahme bei einem selbst auslöst, wenn man sich ernsthaft in einen Menschen aus den Armutsgebieten der Welt versetzt (hinzuzufügen ist: mit dem Wissen und den Erfahrungen versehen, die mir als einem Angehörigen der sogenannten Ersten Welt ganz selbstverständlich zugänglich sind).

Solidarisches Handeln entspringt mindestens so sehr den langfristigen Eigeninteressen einer Person wie auch ihren moralischen, auf gelingende Zwischenmenschlichkeit gerichteten Intuitionen.

Beinahe automatisch werden nämlich drei Forderungen auftauchen: Erstens, Schurkenregimes nicht zu unterstützen; zweitens auf Institutionen hinzuwirken, wie sie Peter Singer vorschweben; drittens, wo immer es geht und nützlich ist – und sei es noch so klein – zugunsten der Verbesserung der Lebensumstände meines Gegenübers beitragen zu wollen.

Wiederum wäre hier viel hinzuzufügen; nicht zuletzt im Hinblick auf sehr handfeste Verstrickungen zwischen den korrupten Eliten dort und ihren eifrigen Dienstleistern hier, bei uns, den willigen Helfern im Westen; den Anwälten, den Bankern, Treuhändern etc. die „Steigbügelhalter beim Griff in die geplünderte Staatskasse (sind) und dabei den eigenen Profit über die Moral (stellen).“ (Brönnimann 2020, S. 4) Als Ausdruck von Solidarität (weder im ursprünglichen noch im erweiterten Sinn) sind solche Bewertungen und Einstellungen nicht zu klassifizieren, hingegen als normativ inspirierte Alltagsreaktionen, die zu uns als sozialen, einfühlungsfähigen, auf sprachliche Verständigung hin angelegten Lebewesen von Natur aus immer schon gehören.

Die Ausgangsfrage lautete: „Was heißt und wie begründetet man Solidarität?“ Nachdem zuerst – begriffsgeschichtlich – der Solidaritätsbegriff auf den Zusammenhang mit mehr oder weniger eng verbundenen Not- und Schicksalsgemeinschaften zurückgeführt worden ist, war die entsprechende Begründungsfrage nicht besonders schwierig zu beantworten: Solidarisches Handeln entspringt mindestens so sehr den langfristigen Eigeninteressen einer Person wie auch ihren moralischen, auf gelingende Zwischenmenschlichkeit gerichteten Intuitionen; Intuitionen, die sich rasch ausfächern lassen in verschiedene soziale Haltungen (wie Menschliebe oder Gerechtigkeitserwartungen, um nur die zwei Beispiele zu erwähnen, die näher analysiert wurden).

Im Umweg über das Thema „Weltarmut“ und in der Auseinandersetzung mit Peter Singers Argumentation ist schließlich das Gebot der Goldenen Regel, dieser – „weltethischen“ Die Goldene Regel gilt als wichtigstes Beispiel für die ethisch-moralischen Gemeinsamkeiten in den Religionen und Kulturen der Welt (vgl. dazu Küng 2002). – Grundnorm, als der ersten Begründung für globale Moralpflichten in den Blick gerückt.

Dass und inwiefern sie als belastbare Befestigung für Ansprüche im Umgang mit unserer Mitwelt – sowohl im engeren und engsten, ebenso aber im größtmöglich-planetarischen Kontext – dienen kann, hoffe ich ein Stück weit einsichtig gemacht zu haben.

Zum Autor

Georg Kohler, Prof. em. Dr. phil. Lic. iur., 2010–2012 Gastprofessor an der TU Dresden, 1994–2010 Ordinarius für Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Politischen Philosophie an der Universität Zürich; 1984–1991 in der Leitung einer Familienfirma in Wien, sowie als Publizist tätig; 1992–1994 Lehrstuhlvertretung der Professur für politische Philosophie und Theorie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München.
kohler@philos.uzh.ch

Literatur

Boshammer, Susanne (2007): Solidarität. In: Gosepath, Stefan von/Hinsch, Wilfried/Celikates, Robin (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 2. Berlin: De Gruyter, S. 1197–1200
Brönnimann, Christian (2020): Wegschauen aus Prinzip. Die Luanda Leaks drücken die westliche Mitverantwortung an der Korruption in Afrika aus. In: Tages-Anzeiger. Die unabhängige Schweizer Tageszeitung, Mittwoch, 22.01.2020, S. 4; www.derbund.ch/wirtschaft/wegschauen-aus-prinzip/story/27261862 (Zugriff: 04.02.2020)
Höffe, Otfried (1979): Kants kategorischer Imperativ als Kriterium der Sittlichkeit. In: Ders.: Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 84–119
Höffe, Otfried (1999): Demokratie in Zeiten der Globalisierung. München: C.H. Beck
Küng, Hans (Hrsg.) (2002): Dokumentation zum Weltethos. München: Piper
Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Singer, Peter (2017): Hunger, Wohlstand und Moral. Hamburg: Hoffmann & Campe (engl. Famine, Affluence, and Morality, 1972)
Zoll, Rainer (2000): Was ist Solidarität heute? Frankfurt am Main: Suhrkamp