Außerschulische Bildung 1/2022

Was WEISS ich?

Diskussionsbeitrag zum AdB-Positionspapier

In der Ausgabe 4/2021 der „Außerschulischen Bildung“ hat sich Christian Hesse, pädagogischer Mitarbeiter in der Akademie Biggesee, eine Mitgliedseinrichtung des AdB, kritisch mit dem AdB-Jahresthema 2021 „Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen! Eine Kernaufgabe für Gesellschaft und Politische Bildung“ sowie mit dem in diesem Kontext veröffentlichten gleichnamigen Positionspapier auseinandergesetzt. Mit dem folgenden Beitrag reagiert Ina Bielenberg, Geschäftsführerin des AdB, auf die angeführten Kritikpunkte. von Ina Bielenberg

In seinem Beitrag kritisiert Christian Hesse die mit „polarisierter Schärfe“ (Hesse 2021, S. 53) geführte gesellschaftliche Debatte, die sich seiner Ansicht nach auch im AdB-Jahresthema widerspiegelt, er bemängelt die Vereinfachung der tatsächlichen Komplexität und Vielfältigkeit des Themas und problematisiert eine moralisch aufgeladene Debatte, die subjektiv empfundene Benachteiligungen mit „objektiven Benachteiligungen“ wie Einkommensunterschieden gleichsetzt (ebd., S. 55).

Zunächst einmal: Jahresthema und Positionspapier www.adb.de/stellungnahme/was-weiss-ich-rassismuskritisch-denken-lernen sollen nicht nur die Einstellung des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten zum gewählten Thema deutlich machen, sondern sie haben die Aufgabe, das Thema in den Verband, in die politische Bildung zu tragen. Sie sollen zur Diskussion anregen und die Auseinandersetzung mit dem Inhalt befördern. Dazu gehört selbstverständlich auch die Kontroverse, gehört Widerspruch, dazu kann auch begründete Ablehnung gehören wie in diesem Fall. Argument und Gegenargument, Rede und Gegenrede, Austausch und Diskurs sind der Kern politischer Bildung. Wir sind also im Gespräch! Das ist gut und daher erlaube ich mir im Folgenden, auf den Beitrag von Christian Hesse zu reagieren.

Das AdB-Positionspapier ist ein Papier der Mitglieder

Ich fange mit dem Schluss des Beitrags an, da dort ein für den Verband durchaus schwerwiegender Vorwurf formuliert ist. Dort heißt es: „Das eigentliche Problem liegt darin, dass der AdB aus meiner Sicht eine Grenze von der (auch durchaus wertegebundenen) politischen Bildung zum politischen Aktivismus überschreitet, wenn er diesen (seinen Standpunkt, I.B.) als Faktum darstellt und von seinen Mitgliedern als handlungsleitend einfordert. Auch vor dem Hintergrund des Kontroversitätsgebots halte ich diese Fokussierung für bedenklich.“ (Ebd. S. 56)

Der Vorwurf suggeriert, „der“ AdB (wobei an dieser Stelle zunächst geklärt werden müsste, wer mit „der“ AdB gemeint ist. Der Vorstand? Die Mitarbeitenden der Geschäftsstelle? Die Fachkommissionen?) würde ein Papier verfassen, das dann den Mitgliedseinrichtungen – quasi von oben – als handlungsleitende Maxime zur verbindlichen Umsetzung mit auf den Weg geben wird. Das ist entspricht in keiner Weise dem Vorgehen des AdB. Daher sei an dieser Stelle noch einmal erinnert, wie ein Thema und ein Positionspapier zustande kommen:

Alle Mitglieder des Verbandes sind zunächst im Rahmen der Mitgliederversammlung und aller Kommissionsitzungen gebeten, Vorschläge für das nächste Jahresthema zu machen. Ausnahmslos alle Vorschläge werden von der Geschäftsstelle gesammelt und in den ersten Vorstandssitzungen eines Jahres diskutiert. Die Mitglieder des Vorstands entscheiden sich dann für einen Themenvorschlag. Grundlage für diese Entscheidung sind Fragen nach gesellschaftlicher und politischer Aktualität des Themas, Fragen nach der Bedeutung für den Fachdiskurs sowie nach einer ausreichend vorhandenen Breite und Tiefe des Themenvorschlags, um für alle Mitglieder relevant und umsetzbar zu sein. Das Positionspapier selbst entsteht in einem partizipativen Prozess, an dem sich alle Mitglieder bzw. alle Mitarbeitenden in den Mitgliedseinrichtungen beteiligen könnten. Ein erster Entwurf des Papiers, meist ein Strukturierungsvorschlag, unterlegt mit ersten Stichworten, wird Wochen vor der Mitgliederversammlung online gestellt, eine Information dazu per Mail versandt. Bis kurz vor der Mitgliederversammlung haben alle die Möglichkeit, ihre Gedanken, Ideen und Vorschläge in den Entwurf einzutragen. Der so angereicherte Entwurf wird dann von Vorstand und Geschäftsstelle bearbeitet, in eine lesbare Form gebracht und vor der Versammlung erneut online zur Verfügung gestellt. Während der Mitgliederversammlung wird dann der bis dahin entstandene Text erneut diskutiert. Wer schon einmal dabei war weiß, dass hier im konstruktiven Streit teilweise sehr lange und manches Mal auch bis zum zweiten Tag der Veranstaltung über Inhalte und Formulierungen gerungen wird, bis dann schlussendlich über den Entwurf abgestimmt wird, der bisher immer mit allergrößter Mehrheit von der Versammlung verabschiedet wurde. Es handelt sich also mitnichten um das Aufoktroyieren eines Standpunktes, sondern um die Positionierung der Mitglieder selbst. Die im Papier formulierten Forderungen sind die Forderungen der Mitglieder an sich selbst, alles andere würde dem Selbstverständnis des AdB auch widersprechen.

Positionierung gegen Rassismus ist kein Aktivismus

Auch den Vorwurf der Überschreitung der Grenze zum politischen Aktivismus vermag ich nicht zu erkennen. Die Akteure politischer Bildung werden im Papier aufgerufen,

  • „eine selbstkritische Analyse der eigenen Arbeit und Strukturen vorzunehmen“

In der Ausgabe 4/2022 der Außerschulischen Bildung hat Anja Dargatz, Leiterin des Fritz-Erler-Forums, in ihrem Beitrag Fragen formuliert, die sich so oder in ähnlicher Form jedem Bildner und jeder Bildnerin stellen, unter anderem diese Fragen: „Bin ich besonders nett zu Menschen, von denen ich glaube wahrzunehmen, dass sie aufgrund ihres Aussehens von der Mehrheit im Seminar ausgeschlossen werden? Ist das dann ‚besonders nett‘, diskriminierend oder einfach sehr kompliziert gedacht? Suche ich als Referentin gezielt einen Menschen of Color, damit meine Veranstaltung diverser wird? Aber darf das Aussehen ein Kriterium sein?“ (Dargatz 2021, S. 50)

Leicht zu beantworten sind diese Fragen ganz bestimmt nicht, im Gegenteil, sich ihnen zu stellen ist anstrengend und fordernd und sie zeigen einem oft genug die eigenen Grenzen auf. Sich mit solchen Fragen aber immer wieder selbst kritisch zu hinterfragen, Inhalte, Angebote, Formate zu prüfen, auch und gerade im Hinblick auf Formen möglicher Diskriminierung, sollte Alltag in den Einrichtungen der politischen Bildung sein. Denn, und da stimme ich mit Christian Hesse überein, die Problematik ist ungeheuer komplex und die Herausforderung mehr als groß. Wo und wie also beginnen? „Die Antwort mag vielleicht banal erscheinen, aber sie lautet: zuerst und vor allem bei sich selbst. Kritik ist immer zuerst auch Selbstkritik.“ – So lautet die kluge Antwort von Thomas Gill, Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, die er in seinem Beitrag zur Thematik gibt (2021, S. 24) und die sich auch in der genannten Forderung des Positionspapiers spiegelt.

  • „Räume für rassismuskritische Bildung zur Verfügung zu stellen“

ist eine weitere Forderung im Papier. Wenn wir rassismuskritische Bildung als eine Aufgabe politischer Bildung anerkennen, und daran hat ja auch Christian Hesse keinen Zweifel, dann braucht es auch die entsprechenden Inhalte und Angebote. Wir kommen aber selbst und als Profession keinen Schritt weiter, wenn die Einbeziehung bisher marginalisierter Perspektiven nicht zentraler Bestandteil einer rassismuskritischen politischen Bildung werden. D. h., rassistische Diskriminierungen können nicht allein aus der Perspektive derjenigen thematisiert und bearbeitet werden, die solche Diskriminierungen gar nicht erfahren. Die Perspektiven der von Rassismus Betroffenen muss sich in den Angeboten deutlich wiederfinden. Warum sollten diese sich sonst auch von den Angeboten angesprochen fühlen? Und das sollte ein Ziel sein, wenn die dritte Forderung

  • „Diversität sichtbar machen“

Realität werden soll. Unser eigener Anspruch als politische Bildner*innen sowie unsere öffentliche Förderung verpflichten uns, Gesellschaft insgesamt abzubilden und einzubeziehen, also auch gesellschaftliche Diversität sichtbar zu machen. Dieser Anspruch gilt im Hinblick auf die Ansprache und das Erreichen einer diversen Teilnehmerschaft, er gilt aber auch im Hinblick auf die Zusammensetzung unser Mitarbeitendenteams, er gilt für die Auswahl unserer Themen und Inhalte, die Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit sowie unsere Kommunikation nach innen und außen.

Diversität sichtbar machen Foto: AdB
  • „Sich deutlich zu positionieren“

Möglicherweise ist dieser Punkt im Positionspapier der Stein des „Aktivismus-Anstoßes“, der aber schnell entkräftet werden kann. Sich zu positionieren bedeutet hier, sich gegen Rassismus zu positionieren. Das ist keine Verletzung des Kontroversitätsgebotes, sondern gebotene Notwendigkeit. Politische Bildung ist nicht neutral. Ihre normative Orientierung bilden die demokratischen Grundwerte, die Menschrechte und ihre grundrechtlichen Konkretisierungen. Dieser normative Kern ist nicht vereinbar mit Rassismus, was bedeutet, dass politische Bildung die Widerständigkeit gegen menschenfeindliche Haltungen, gegen Rassismus, gegen jede Ideologie der Ungleichheit sowie gegen antidemokratische Einstellungen fördert und fördern muss und dass dies in der Haltung der politischen Bildner*innen zum Ausdruck kommen muss. Zu diesem Schluss kommt im Übrigen auch die Expertenkommission zum 16. Kinder- und Jugendbericht und formuliert praxisnah: „Nichts ist in einem solchen Zusammenhang schädlicher als Bildungspersonal mit indifferenter Haltung.“ (BMFSFJ 2020, S. 42)

Überhitzte Debatte oder notwendige Auseinandersetzung?

Aber hat Christian Hesse nicht Recht, wenn er die Eingangsfrage des Jahresthemas „Was WEISS ich?“ kritisiert? Machen wir damit nicht wieder ein oder eher sogar zwei Schubladen auf, in die wir alle einsortieren? Und weist der Titel nicht eher auf eine moralische Auseinandersetzung denn auf eine professionell fachliche?

Politische Bildung ist nicht neutral. Ihre normative Orientierung bilden die demokratischen Grundwerte, die Menschrechte und ihre grundrechtlichen Konkretisierungen.

Wenn das die Intention des Jahresthemas gewesen wäre, würde ich dem Autor Recht geben. Aber nein, es geht nicht um Moral. Es geht um Anerkennung, um Wertschätzung, um Respekt, es geht um Menschenrechte. „Critical Whiteness“, so beschreibt es Anja Dargatz, „ist die kritische Auseinandersetzung mit der Figur des Weißen als norm-stiftend.“ (2021, S. 50) Menschen, die als nicht-weiß wahrgenommen werden, werden als „anders“ wahrgenommen, und mit diesem Anderssein ist eine gesellschaftliche Hierarchisierung verbunden. Und daraus erwachsen Privilegien: nicht rassistisch diskriminiert zu werden, bei der Job- und Wohnungssuche bevorzugt zu werden, in bestimmten Gegenden keine Angst haben zu müssen und andere mehr. Dass auch andere gesellschaftliche Gruppen – Frauen, Kinder, behinderte Menschen, non-binäre Personen u. a. – ebenfalls Diskriminierungen erfahren und benachteiligt werden, wird damit selbstverständlich nicht negiert, noch stellt es einen Widerspruch dar.

Aber noch einmal: Heizen wir mit dem AdB-Jahresthema nicht eine Debatte an, die keine weitere Hitze mehr verträgt? „Nicht rassistische Einstellungen nehmen zu, sondern die Sensibilität gegenüber diesen.“ So schreibt Christian Hesse und verweist darauf, dass nirgendwo sonst auf der Welt Rassismus weniger akzeptiert ist als in der „sogenannten westlichen Welt“ (2021, S. 54).

Bei Rassismus geht es immer auch um Fragen von Konflikt, Interesse, Macht, Konsens, Herrschaft, Willensbildung. Und das sind die zentralen Kategorien von Politik, an denen sich – um die Notwendigkeit der Beschäftigung der politischen Bildung mit Rassismus auch professionsspezifisch und fachlich zu begründen – die Inhalte politischer Bildung zu orientieren haben.

Wenn die Sensibilität gegenüber Rassismus wirklich gewachsen wäre, wäre das eine mehr als begrüßenswerte Entwicklung. Ich bin da skeptischer als der Autor. In der Studie „Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21“ von Andreas Zick und Beate Küpper (2021) stimmen der Aussage „Schwarze Menschen sind zu empfindlich, wenn von Rassismus in Deutschland die Rede ist“ 18,4 % ganz oder eher zu und 50 % geben die Antwort teils/teils oder eher nicht. Nur rund ein Drittel der Befragten stimmen der Aussage überhaupt nicht zu. So wirklich sensibel scheint mir diese Haltung nicht zu sein, meines Erachtens bringt sie eher zum Ausdruck, dass die meisten Menschen sich nicht so recht mit der Thematik beschäftigen wollen, weil, wie oben schon ausgeführt, das Thema schwierig, unangenehm, fordernd ist, da hält man sich lieber raus. Aber kann man Rassismus „neutral“ gegenüberstehen? Eine rhetorische Frage. Nein, das kann man nicht, und schon gar nicht in der politischen Bildung. Bei Rassismus geht es immer auch um Fragen von Konflikt, Interesse, Macht, Konsens, Herrschaft, Willensbildung. Und das sind die zentralen Kategorien von Politik, an denen sich – um die Notwendigkeit der Beschäftigung der politischen Bildung mit Rassismus auch professionsspezifisch und fachlich zu begründen – die Inhalte politischer Bildung zu orientieren haben.

Womit ich in jedem Fall mit Christian Hesse übereinstimme, so verstehe ich sein Anliegen, ist sein Plädoyer, Positionen nicht absolut zu setzen, nicht moralisierend zu argumentieren und nicht Meinung mit Wissen zu verwechseln. Politische Bildung – und zugespitzte Jahresthemen! – können genau dabei helfen, sich fundiert auseinanderzusetzen, können helfen, in den Austausch zu kommen und im Gespräch zu bleiben. Die Polarisierung der aktuellen Debatte, da schließe ich mich dem Fazit von Thomas Gill an, ist gleichzeitig Herausforderung und Chance für die politische Bildung: „Letztendlich geht es darum, Menschen bei der Neuverhandlung der Frage einzubeziehen, wie wir künftig zusammenleben wollen.“ (2021, S. 25) Und diese Neuverhandlung wird nur gelingen, wenn wir alle einbeziehen, wenn wir im Gespräch bleiben und die schwierigen und herausfordernden Fragen nicht aussparen, sondern klären.

Zur Autorin

Ina Bielenberg hat Geschichte, Politik und Sozialwissenschaften studiert (M.A.). Von 1992 bis 2006 war sie in der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) tätig, zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin und später als stellvertretende Geschäftsführerin. Seit 2007 ist sie Geschäftsführerin des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e. V.
bielenberg@adb.de

Literatur

BMFSFJ (Hrsg.) (2020): Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter; www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/16-kinder-und-jugendbericht-162238 (Zugriff: 23.01.2022)
Dargatz, Anja (2021): Kritisch Weiß-Sein in der Politischen Bildung. Überlegungen aus dem privilegierten „Wir“ heraus. In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Ausgabe 4/2022, S. 50–52
Gill, Thomas (2021): Die geforderte politische Bildung. Einige Schlussfolgerungen aus den aktuellen Debatten um Sprache, Sichtbarkeit und strukturellem Rassismus. In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Ausgabe 4/2022, S. 20–26
Hesse, Christian (2021): Schwarz-Weiß-Denken. Kritische Anmerkungen zum AdB-Jahresthema 2021. In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Ausgabe 4/2022, S. 53–56
Zick, Andreas/Küpper, Beate (Hrsg.) (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Bonn: Dietz-Verlag