Fünf Fragen an den politischen Bildner Marco Rockert
Außerschulische Bildung: Sie haben vor zwei Jahren eine Ausbildung zum Referent für eine menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik abgeschlossen und arbeiten neben Ihrer Tätigkeit als Coach als politischer Bildner. Sie haben eine ganz eigene Perspektive auf das Feld der politischen Bildung in Deutschland. Können Sie uns beschreiben, was diese Perspektive so besonders macht?
Aus meiner eigenen Geschichte kenne ich das Verhalten bzw. die Bedürfnisse beider Seiten – die eine Seite als Mensch ohne und die andere Seite mit Behinderung. Diese beiden Seiten divergieren in bestimmten Themen wie z. B. Sinnhaftigkeit, Umsetzbarkeit und Wertigkeit, was, aus meiner Wahrnehmung heraus, aus einem traditionsbestimmten Unverständnis herrührt. Aus diesen daraus resultierenden Erkenntnissen habe ich ein Verständnis für jede dieser zwei Gruppen und somit ist es mir möglich, als Mittler zwischen beiden zu agieren. Aus dieser Praxis heraus gestalte ich für mich eine wertfreie, wertschätzende und ressourcenorientierte Kommunikationskultur, die ich praxisorientiert stetig verfeinere. Emotionale Teilhabe ist gerade in der Kommunikation extrem wichtig und ist die Basis für erfolgreiches Gelingen. Umrahmt wird dieses Verständnis mit der Kombination meiner persönlichen Erfahrungen mit der Ausbildung als CAS(e)CO(oach), Referent für menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik – Hinhören – Verstehen – Zusammenwirken. Meinen Erfahrungshorizont erweitere ich in der Fridjof-Nansen-Akademie des Weiterbildungszentrums Ingelheim als Referent in der politischen Bildung für das Thema Inklusion. Ich sehe diese meine Perspektive nicht als etwas Besonderes. Sie ist aus den täglichen Begegnungen und meinem Tun erwachsen, ist für mein Engagement als Inklusionsbotschafter und politischer Bildner enorm hilfreich. Das Wohl des Menschen und die Erfüllung seiner Bedürfnisse ist die Motivation meines Tuns.
Die politischen Bildner*innen in Deutschland haben den Anspruch, eine inklusive politische Bildung zu gestalten. Dieser Anspruch ist bei weitem nicht umfassend eingelöst. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen und Defizite?
Die größte Herausforderung ist meines Erachtens die Angst, Fehler zu machen und dass dadurch emotionale Verletzungen und Dramen entstehen, die Vorurteile oder Bewertungen schüren, statt diese abzubauen. Diese Angst wird durch den Irrglauben verstärkt, nachhaltige und gelebte Inklusion in der politischen Bildung sei ein langwieriges und schweres Unterfangen, was extrem viel Arbeit mit sich bringt. Dies hat zu Folge, dass aktuell zu wenig attraktive und konstruktive Aufklärungsangebote zur Sensibilisierung für das Thema Menschen mit Behinderung existieren. Vorhandene Angebote sind oftmals unattraktiv, zu kostenintensiv und in der Praxis unmöglich umzusetzen. Der extrem hohe bürokratische Aufwand in vermehrt unverständlicher Behördensprache erschwert diese missliche Angebotslage zusätzlich und dadurch kommt es, aus meiner Sicht, zu diesem Defizit im Bereich inklusiver Angebote in der politischen Bildung. Hierbei bedarf es aus meiner Wahrnehmung innovativer und praxisnaher Angebote in leichter Sprache mit leichter, direkter Umsetzbarkeit ins Alltagsgeschehen. Die größte Herausforderung und gleichzeitig das größte Defizit für eine inklusive politische Bildung sehe ich in der aktuellen Wahrnehmung der Gesellschaft und der Politik auf die Personengruppe von Menschen mit Behinderung. Aus dem Aspekt dieser Wahrnehmung sind Mauern entstanden oder entstehen immer noch, die es zunächst abzubauen gilt, um eine erfolgreich gelingende inklusive politische Bildung zu gestalten.
Was würden Sie einer Einrichtung politischer Bildung raten, die sich ernsthaft auf den Weg machen möchte, barrierefrei (im weitesten Sinne) zu werden?
Das Angebot regelt die Nachfrage und jedes Werkzeug ist nur so gut/schlecht wie die/der Benutzer*in in der Lage ist, es zu nutzen. Aus meiner Erfahrung heraus ist es entscheidend, dass Werte wie Authentizität, Glaubwürdigkeit und Begegnung auf Augenhöhe gelebt werden – die Persönlichkeit/en der Agierenden von Einrichtungen tragen hier maßgeblich dazu bei. Ein klar definiertes und verständliches Bild bzw. Statement der Einrichtung zum Thema Inklusion ist meines Erachtens unumgänglich. Diese Rahmenbedingung schafft Klarheit und Sicherheit für alle Beteiligten. Mit bedarfsgerechten, leicht umsetzbaren und praxiserprobten Angeboten werden Verbindungen der Agierenden der Einrichtung, wie auch der Teilnehmer*innen geschaffen. Mit einem lebhaften Prozess von Agierenden der Einrichtung zusammen mit Teilnehmer*innen ist es möglich, Behinderung als Chance für die gesamte Gesellschaft zu erkennen. Aus diesem Zusammenwirken entsteht eine Sinnhaftigkeit des Tuns und unerkannte Ressourcen seitens der Einrichtung sowie der Teilnehmer*innen werden sichtbar. Diese Vorgehensweise fördert und stärkt die emotionale Teilhabe und das Gefühl der Bedeutsamkeit wächst Stück für Stück. Was gibt es Schöneres als das Gefühl, ein produktiver, anerkannter und beitragender Teil der Gesellschaft zu sein? Hat eine Einrichtung den ernsthaften Anspruch, einen Mehrwert für alle Mitwirkenden zu ermöglichen, und wenn sie diesen Anspruch auch spürbar umsetzt und lebt ist, meiner Meinung nach, der Weg für eine inklusive politische Bildung frei.
Können Sie uns ein Beispiel aus Ihrer Praxis schildern, das aus Ihrer Sicht für eine gelungene, inklusive Praxis steht?
Als ehrenamtlicher Stadtteilkümmerer für die Stadt Ingelheim agiere ich zusammen mit dem Caritaszentrum St. Laurentius (Caritasverband Mainz e. V.), welches sich vorbildlich der sozialräumlichen Arbeit widmet. Aus der Idee heraus, mehr Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung zu erzeugen, ist das Projekt „Was ist Dein LOS“ entstanden. Es handelt sich um eine Plakataktion in Anlehnung an die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, welche in einer bunt gemischten und vielfältigen Gruppe gestaltet und umgesetzt wurde. Die Nachhaltigkeit wird durch verschiedene und vielfältige Anschluss-Aktionsprogramme gewahrt. Im Sinne einer gleich-berechtigten und vielfältigen Gesellschaft gemäß „Nicht ohne uns über uns“ ist dies ein Beispiel, den Prozess der Inklusion erlebbar zu machen.
Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung wurden Ansprüche für eine inklusive Gesellschaft formuliert. Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten politischen Aufgaben, um diesem Anspruch näher zu kommen? Welche politischen Forderungen knüpfen sich daran?
Eine Aufgabe der Politik sehe ich darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, welche für alle verfügbar und zugänglich sind. Äußerst wichtig ist hierbei, keine Trennung, Ungerechtigkeiten und vor allem keine Bevormundung entstehen zu lassen. Ebenso ist es Aufgabe der Politik, die Verteilung bereitgestellter finanzieller Mittel zu koordinieren, um eine gleichmäßigere Aufteilung in die Teilbereiche der Inklusion zu gewährleisten.
Eine der Hauptaufgaben der Politik ist meiner Meinung nach, der Personengruppe „Menschen mit Behinderung“ ein neues öffentliches Erscheinungsbild gemäß des Artikels 1, BGB, zu ermöglichen. Wir sind keine Opfer, die Mitleid brauchen. Wir sind keine Schmarotzer, die der Gesellschaft schaden. Wir sind keine Faulenzer, die nicht arbeiten wollen. – Wir sind Menschen und ein gleichberechtigter und mitbestimmender Teil der Gesellschaft, wenn man uns lässt.
Mir steht es nicht zu, politische Forderungen zu stellen, da ich mich als Inklusionsbotschafter mit der Haltung zum Aufklären und Sensibilisieren sehe. Inklusion (von lateinisch inclusio „Einschluss, Einschließung“) ist ein sich ständig wandelnder und Bedarfsveränderungen unterliegender Prozess, der kein rein politisches, sondern vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Thema ist, in dem jede/r gefragt ist. Die Bedürfnisse und Notwendigkeiten von Menschen mit Behinderung, wie auch andere Bereiche der Inklusion, sind aus meiner Wahrnehmung zu schwammig und noch nicht klar definiert. Hierfür wünsche ich von Seiten der Politik und auch von Seiten der Betroffenen einen wertfreien, ressourcenorientierten und sinnhaften Dialog, um den Prozess der Inklusion konstruktiv, bedarfsgerecht und praxisnah zusammen umzusetzen, anzupassen und wenn nötig zu verändern. In diesem stetigen Dialog ist eine gleiche Mitsprache aller unabdingbar, denn Trennung und Bewertungen sind Prozesskiller.
Zum Interviewpartner
marco-rockert@t-online.de